Filmtipps fürs 38. Dokfest München 2023

30. April 2023

HEAVEN CAN WAIT  - wäre mein Eröffnungsfilm gewesen, ist es aber leider nicht.

Am Mittwoch dem 3. Mai eröffnet das 38. Internationale Dokumentarfilmfestival München, auch diesmal als duales Festival: vom 3. bis 14. Mai in den Münchner Kinos und ab dem 8. Mai bis zum 21. Mai auf der digitalen Leinwand  @home (www.dokfest-muenchen.de). Die Eröffnungsveranstaltung  findet am Mittwoch dem 3. Mai um 20 Uhr im Deutschen Theater in München auf Einladung statt. Als Eröffnungsfilm wird ETILAAT ROZ von Abbas Rezaie gezeigt. Die Tickets kosten dieses Jahr sowohl für Kino und wie für @home Streaming  10,00 € online. Ein ermäßigtes Ticket gibt es für 8 € nur an der Abendkasse vor Ort.

 

Die Festivalleiter Adele Kohout und Daniel Sponsel bei der Pressekonferenz

Das 38. Dokfest München in Zahlen (2022 in Klammern):
130      Filme   (124)
1178   Einreichungen
55        Länder  (55)
28        Weltpremieren
58        Deutschlandpremieren  (61)
16        Wettbewerbe und Preise   (17)
21        Spielorte in München   (19)
437      Vorführungen (371)
75        Filmgespräche ca.
64        tausend Euro Preisgeld
1200   Akkreditierte ca.
??        tausend erhoffte Besucher     (47.000)
Und weil sich jetzt die Regisseure bei der Anmeldung auch einordnen müssen, weiß man
dass  51% männlich, 45 % weiblich, 4 % divers sind.

Zu den Spielstätten sind dieses Jahr weitere hinzugekommen. Projiziert wird in den Kinos: City, Rio, Filmmuseum, Neues Rottmann, Neues Maxim und in der HFF, dem Deutschen Theater, dem  Amerikahaus, Lenbachhaus, der Pinakothek der Moderne, den Kammerspielen und dem Literaturhaus, ist jetzt auch die Pasinger Fabrik dabei.

Das dies jähre Gastland ist die Türkei, dem vier Dokumentarfilme gewidmet sind. Der Filmemacher Nikolaus Geyrhalter wird mit einer Hommage mit 6 Filmen gewürdigt.

Der letzte Eröffnungsfilm hat dieses Jahr den Dokumentarfilm Oskar bekommen. Wie die Auswahl dieses Jahr zu Stande kam, bleibt ein Rätsel, denn der ausgewählte Film ist mit Abstand der unattraktivste von allen, die ich gesehen habe.

Neue Tendenzen ließen sich diesmal in der mehr zufälligen Auswahl von Filmen nicht wirklich ausmachen. Wenn man den Aufdruck auf den handgemachten Festivaltragetaschen „Who am I“ als Motto nimmt, die Suche nach dem Ich ist weiterhin ein wichtiges Thema und Filmemacher stürzen sich nicht nur auf ein Thema, sondern bringen die eigene Position und Befindlichkeit mit in den Film: ADIEU SAUVAGE, APOLONIA APOLONIA, EIGENTLICH EIGENTLICH JANUAR.

Die Kunst und die kreative Selbstverwirklichung spielt eine wichtige Rolle ART TALENT SHOW,APOLONIA APOLONIA, FACING TIME und NAM JUNE PAIK - MOON IS THE OLDEST TV.

Corona scheint uns schon sehr fern, weil aber viele Filme im Laufe der letzten drei Jahre entstanden sind, sieht man oft noch Masken und den berühmten Mindestabstand.

Neue hippe Bildgestaltungsmittel gibt es nicht, auch keine neuen unbekannten Sichtweisen; die Mittel der Kamera scheinen ausgereizt, was aber kein Nachteil ist. Auf der einen Seite gibt ein allgemein hohes Niveau der Bildgestaltung und dann auch wieder die Bemühungen Bildfremder Personen einen Film zu realisieren, was wahrscheinlich den Produktionsbudgets geschuldet ist. Allgemein herrscht eine hohe Dialog/Text Lastigkeit vor, wobei Kommentare grundsätzlich gemieden werden, wie ein Ausschlusskriterium vom Siegel Dokumentarfilm. Beobachtende Filme sind selten, das mag oft an den komplexen Themen liegen, die verhandelt werden.

Fotografen, Filmemacher und Künstler sind für nachfolgende Filmemacher ein gefundenes Fressen, weil sie einen großen Bilder- und Werkschatz mitbringen und oft durch ihren Beruf an den verrücktesten Plätzen der Welt unterwegs waren und somit als Grundlage und Anlass für neue Reisen und Abenteuer dienen können.

Die Bewertung ist rein subjektiv und da durch die Retrospektiven auch ältere Filme darunter sind spiegelt sie nicht die aktuelle Situation.

 

HEAVEN CAN WAIT-WIR LEBEN JETZT  [Leben im Alter / Musik]

Deutschland 2023 / 120 Minuten / dtOF

Der Film beginnt mit dem, was man normal aus einem Film herausschneidet. Alte Protagonisten vor der Kamera fragen ob sie richtig im Bild sind, wo sie hinschauen sollen oder bewundern die für uns unsichtbaren Akteure hinter der Kamera, was sie alles aufgebaut haben und wie sie auf der Erde hocken, und beim Schminken erklärt eine weitere Protagonistin: Das wird ein Film über unseren Chor, ein Kinofilm wird das. Und das ist es geworden!  „Heaven can wait“ ist ein Hamburger Senioren Chor, Aufnahmebedingung 70+, und in ihm kommen die unterschiedlichsten Menschen diverser Sozialschichten zusammen. Heimatort ist das St. Pauli Theater. Die Struktur ist schnell klar und der Film nutzt die Möglichkeit zwischen Auftritten, Proben, und sehr vielen Protagonisten hin und her zu springen und bringt in den zwei Stunden Laufzeit die geballte Lebensweisheit und Erfahrung zu den unterschiedlichsten Themen zusammen und immer wieder tut sich etwas Neues auf, in den Lebensläufen der Chormitglieder. In der Corona-Pause bekommen sie Kameras, mit denen sie sich selber filmen können und es entstehen dabei Szenen, die ein Filmteam nicht aufnehmen könnte, denn die alten sind schonungslos mit sich selbst und präsentieren sich mit ihrer ganzen Gebrechlichkeit. Wenn es ums Sterben geht, dann ist die Grundeinstellung: sie wollen selbst entscheiden. Dieser Film blickt aufs Alter so dynamisch und optimistisch, dass es eine Wohltat ist, leider in einer Ausnahmesituation.

Sehenswert*****

 

 

THE GOLDEN THREAD  [Industriearbeit / Indien]

Niederlande, Norwegen, UK 2022 / 86 Minuten / OmeU

Jute ist eine bis zu 3 Meter hohe Pflanze, deren Fasern zu Fäden gesponnen werden können. Vom Wachsen der Pflanze bis zum fertigen Jutesack zeigt dieser Film das Entstehen des Produkts in einer indischen Fabrik, der Hukumchand Jute Mill, in der zu den besten Zeiten bis zu 30.000 Arbeiter beschäftigt waren. Die Kamera folgt Arbeitern und Arbeiterinnen auf dem Weg in die Fabrik, wie sie ihr Fahrrad durch endlose Gänge in einer gigantischen Halle schieben, um dann ihren Arbeitsplatz zu erreichen. In langen Reihen stehen Transmissions- Riemen getriebene  Maschinen, zum Teil aus dem Jahr 1909. Ein Blick zurück in eine Fabrik des 19ten Jahrhunderts mit viel Aktion und alles ist bis ins Detail zu sehen. Es staubt und lärmt und überall stehen Bündel von Jute in unterschiedlichen Verarbeitungsstufen. Erst nach 20 Minuten hört man den ersten O-Ton und im Folgenden kommen einzelne Personen immer intensiver ins Blickfeld. Der Film entfaltet, wenn man sich auf ihn einlässt, einen Sog, auch weil seine Bilder so opulent  und unmittelbar am Herstellungsprozess sind. Keine Arbeitsschutzabdeckungen und Blackboxen behindern den Blick.

Sehenswert*****

 

 

MATTER OUT OF PLACE

Österreich 2022 / 106 Minuten / OmeU

„Matter out of place“ ist alles, was nicht da war, bevor die Menschen kamen. Der Film führt uns in 10 Gebiete, in denen der Mensch sehr viel zurückgelassen hat, was dort nicht hingehört. Zunächst sehen wir in eine eindrucksvolle Schlucht mit einem Bergsee und als die Kamera näher heran springt entpuppt sich das Strandgebiet als Insel aus Plastikmüll. Ein Bagger rollt auf eine landwirtschaftliche Wiese und setzt die Schaufel auf ein mit blauen Strichen Markiertes Rechteck, hebt die Graddecke weg und gräbt sich tiefer in den Boden. Mit jeder Schaufel werden immer mehr Restmüllgegenstände zu Tage gefördert bis zu ganzen Autoreifen. Unter der Wiesenfläche liegt eine alte Müllkippe. All diese absurden Situationen bekommen wir in wenigen gut kardrierten Bildern aufgetischt, und es macht Spaß den Situationen lange zuzuschauen, wenn beispielsweise ein Müllzerkleinerer einen Haufen Sperrmüll aus Möbeln, Matratzen, Plastikschüsseln langsam in sich hinein frisst. Worum es eigentlich geht, das erfahren wir beim Burning Man Festival in Nevada. Kaum sind die Gäste abgereist, bilden die Helfer Menschenketten und suchen den Wüstenboden nach den kleinsten Überresten ab. „Wir hinterlassen keine Spuren“ sagt der Instrukteur.

Sehenswert*****

 

 

HOMO SAPIENS  [Verlassene Orte]

Österreich, Deutschland 2016 / 94 Minuten / dtOF

Diesen Film hätte man auch Lost Places nennen können, denn genau um die geht es, um Orte, die verlassen und dem Zerfall Preis gegeben wurden, und die sich die Natur Stück für Stück wieder aneignet. Es sind Plätze, an denen die Zivilisation gescheitert ist. Am eindrucksvollsten sind natürlich diejenigen, von denen die ehemaligen Bewohner Hals über Kopf geflohen sind, und alles haben stehen und liegen lassen, als wären sie nur eben zur Arbeit gegangen. Die Atomkatastrophen von Fukushima und Tschernobyl haben zwei riesige Areale entstehen lassen, die Menschen Hals über Kopf verlassen mussten. Das Rezept des Films ist denkbar einfach. Eine statische Kamera, keine Schwenks oder sonstigen Bewegungen. Lebende Fotos von der ungefähren und variierenden Länge einer halben Minute reihen sich aneinander: Büros, Schulen, Krankenhäuser, Kirchen, Diskos, Bahnhöfe, Gefängnis, Schlachthaus, Bunker, Kriegsschiff, ...Besonders aufwendig ist der Ton bearbeitet und kann in ausgewählten Kinos nach dem neusten Dolby Verfahren genossen werden.

Sehenswert*****

 

 

EIGENTLICH EIGENTLICH JANUAR  [Tagebuchfilm / Experimentalfilm]

Deutschland 2022 / 100 Minuten / dtOF

Der Filmemacher ist einer der wenigen, die noch eine analoge Kamera benutzen, bevorzugt Super 8, schwarz/weiß und Farb-Material gemischt, mit lange abgelaufenem Mindesthaltbarkeitsdatum. Die Struktur seiner „Tagebuchfilme“ ist einfach: Immer eine 3 Minuten Rolle nach der anderen, geschnitten wird direkt in der Kamera. Komplizierter ist die Textebene aus pausenlos eingesprochenen Reflexionen, die als literarische Texte Bestand haben und deren Aussagen er relativiert, indem er eine zweite Textebene geflüsterter Wahrheiten einzieht, die die Dinge richtig stellen und auch einen Blick hinter die Entstehung des Filmwerks geben. Der Januar gibt den Entstehungszeitraum  und die Länge vor, 31 Rollen, die dann aber bis in den März hinein entstehen. Inhaltlich beschäftigt er sich neben alltäglichem auch mit dem Medium selbst, mit Beginn des Dokumentarfilms in Flahertys „Nanuk“ und mit Fotografien in Familienalben.

Sehenswert****

 

 

AUF DER KIPPE  [Kohleausstieg / Strukturwandel]

Deutschland 2023 /  86 Minuten /  dtOmeU

Das Braunkohlerevier mit seinen Kraftwerken an der Oberlausitz steht nach einem vorgezogenen Kohleausstieg für das Jahr 2030 vor wahrscheinlich unlösbaren Problemen. Die Betroffenen fragen sich, wie der Strukturwandel in der verbleibenden knappen Zeit gelingen kann. Im Film kommt eine Baggerfahrerin des Tagebaus vor, der Bürgermeister von Weißwasser, eine Familie, die vom Abriss bedrohten Haus in einen Neubau umzieht und eine Aktivistin, die auf den schnellen Kohleausstieg drängt. Die Region der Oberlausitz wird nach dem DDR Ende zum zweiten Mal fundamental von einem Umbruch getroffen.

Sehenswert****

 

DIE BAULICHE MASSNAHME   [Flüchtlinge]

Österreich 2018 / 112 Minuten / dtOmeU

Brenner/Brennero ist sicher kein Sehnsuchtsort zum verweilen. Hier verläuft die Grenze zwischen Österreich und Italien. Der Filmemacher beobachtet in langen gut kardrierten Einstellungen das Geschehen von der Seite der Österreicher. Seit in Wien populistische Töne bevorzugt werden, droht ein Zaunbau am Brenner zwecks Gefahrenabwehr. Die Grenzpolizei vor Ort beschwichtigt und kontrolliert ab und zu das bereits gelieferte und eingelagerte Zaunbaumaterial und die Filmemacher besuchen die Menschen im Umfeld, um ihre Meinung zu ergründen. Lustiger Weise besteht ein Tief-Bohrtrupp für den Brennerbasistunnel überwiegend aus afrikanischen Spezialisten. Das ganze eine momentane Stimmungsaufnahme in beruhigenden gut fotografierten Bildern.

Sehenswert****

 

 

ART TALENT SHOW  [Aufnahmeprüfung / Kunst]

Tschechien 2022 /  102 Minuten / OmeU

Jedes Jahr gibt es an der Academy of Arts in Prag die Aufnahmeprüfung für neue Studenten. Die Bewerberzahl ist groß und auf dem Flur bildet sich eine lange Schlange von Anwärtern, die ihre Arbeiten einreichen. Der Film begleitet das Auswahlverfahren in drei  Bereichen. Die Lehrkräfte begutachten die Einreichungen und wählen daraus Prüflinge für das Aufnahmeverfahren. Dann sehen wir in dem mehrtägigen Aufnahme Marathon einzelne Bewerber bei der verschiedenen Aufgaben und Interviews. Sie werden nicht geschont und müssen auch auf provokante Antworten reagieren. Allen, die mit einem Studium an einer Kunstakademie liebäugeln sei dieser Film als Vorbereitung empfohlen.

In der Erzählung springt er geschickt zwischen den verschiedenen Klassen hin und her und die Pförtnerin wird als strukturierendes Element immer wieder zur Trennung von Filmabschnitten herangezogen. Sie ist sinnbildlich die Gatekeeperin, die über den Einlass entscheidet.

Sehenswert****

 

 

THE LETTER   [fremde Welten]

Kenia 2019 / 81 Minuten / OmeU

Es beginnt mit einer Facebook Nachricht, ein Älterer würde die Kinder in der Familie umbringen, weshalb Karisa Kamango von Mombasa ins Elterndorf fährt, um nach dem Rechten zu sehen. In der weit verzweigten Familie wird seiner Großmutter Hexerei unterstellt und jetzt versucht der Enkel mit allen Mitgliedern der weit verzweigten Familie zu reden und die Vorwürfe aufzuklären. Diese können letztlich tödlich sein. Immer wieder werden Ältere unter dem Vorwand der Hexerei angegriffen und ermordet, letztlich oft aus wirtschaftlichem Interesse. Mit der Reise des Enkels lernt man den Alltag der 95 jährigen Großmutter kennen, die Familiensituation bis hin zu einer Austreibungszeremonie.

Sehenswert:****

 

 

NAM JUNE PAIK - MOON IS THE OLDEST TV  [Medienkunst / Portrait]

USA, Südkorea 2023 /  107 Minuten / OmeU

Wenn ein Künstler eine Biografie in Form eines Video-Films verdient hat, dann ist es Nam June Paik, der weithin als Begründer der Medien- und Video-Kunst gilt. Von der Ausbildung her war der 1932 in Korea geborene Paik Komponist. In den frühen60er Jahren verlagert er durch die Fluxus Bewegung seinen Schwerpunkt in die Medienkunst und ist der erste, der mit Fernsehsets und Bildveränderungen arbeitet, damit aber lange keinen Erfolg hat. Mit einem großen Magneten verändert er bei einem Schwarz-Weißfernseher die Strahlablenkung und lässt ein Mond-Bild auf dem Schirm entstehen, wovon der Titel dieser Biografie abgeleitet ist . Im Gegensatz zu seinen Arbeiten ist dieser Film eine Traditionelle Biografie mit extrem vielen Dokumentaraufnahmen vom Wirken Paik und mit wichtigen Zeitzeugen und Weggefährten.

Sehenswert***

 

 

DEMON MINERAL  [Uranabbau / Ureinwohner]

USA 2023 / 88 Minuten / OmeU

Kolonialismus läuft nach immer gleichen Mustern ab. Davon war auch die Navajo Reservation im Grenzgebiet von Utah, Arizona und New Mexico in den USA betroffen, als in den 40er Jahren Uran für die Bombenproduktion gebraucht wurde. Das Dämonische Material wurde ohne große Schutzmaßnahmen von Minengesellschaften abgebaut und die betroffenen Anlieger ließ man im Unklaren. Später verschwanden die Gesellschaften und ließen ein kontaminierte Wüstenlandschaft zurück. Der Film nutzt schwarz-weiß und Farbe als Ausdrucksmittel Die Außenaufnahmen sind in gefilterten schwarz/weiß Bildern gehalten in einer strahlenden Unnatürlichkeit bei dunklem Himmel. Die Innenaufnahmen sind in Farbe. Im Laufe des Films lernt man Wissenschaftler, Landwirte und Künstler aus der indigenen Bevölkerung kennen, die sich mit den schädlichen Folgen des Uranabbaus beschäftigen.

Sehenswert***

 

 

WIR UND DAS TIER – EIN SCHLACHTHAUSMELODRAM  [Tierwohl / Fleischkonsum]

Deutschland 2023 / 90 Minuten / dtOmeU

Eine überwiegende Mehrheit der deutschen Bevölkerung will Fleisch essen. Dafür müssen wenige berufsmäßig Tiere töten. Wie geht es ihnen damit? So kann man diesen Film beschreiben, der Einblick in verschieden große Schlachtbetriebe gibt. Vom Kleinhandwerk über den mittleren Schlachtbetrieb bis zu Fabrik ist die ganze Palette vertreten. Unter den Schlachtern gibt es eine Frau, mit kleinem Betrieb, einen Mann mit 40 Jahren Erfahrung, eine Auszubildende und zwei Vertreter eines Industriebetriebs. Alle machen sie sich Gedanken über das Tierwohl und stellen sich die Frage, darf man Spaß an dieser Arbeit haben? Die Akzeptanz kann sich mit der mehrheitlichen Auffassung in der Gesellschaft auch ändern.  Der Filmemacher hat zur Unterteilung seiner Blöcke auf Nebelbilder gesetzt und verzichtet trotz der Kopflastigkeit der Thematik auf jeden Komentar.

Sehenswert***

 

 

FACING TIME  [Portrait / Fotografie / dt. Geschichte]

Deutschland 2023 /  82 Minuten / dtOmeU

Der Fotograf Michael Ruetz (*1940) ist bekannt geworden als der Chronist der 68er Bewegung. Sein großes Projekt der letzten 30 Jahre ist das Dokumentieren von Veränderungen in Berlin über die Zeit hinweg. Dafür kehrt er immer wieder an die gleichen Orte zurück und nimmt mit gleicher Perspektive breitformatige Fotos auf. Der Film begleitet ihn bei dieser Arbeit, um dann auf andere Themen seines Lebens überzuspringen. Anfang der 60er Jahre hat sich in Deutschland niemand für Ausschwitz und die Vernichtungslager interessiert. Der junge Ruetz fuhr hin und machte viele beeindruckende Fotos. Mit dem Filmteam kehrt er in den Besucherbrennpunkt Ausschwitz zurück. Mit Rainer Langhans, einem der Vorzeige 68er besucht er die ehemalige Wohnung der Kommune 1 und spricht über den Wohngemeinschafts Gedanken einst und jetzt. Er selber stand immer als Beobachter am Rand und hat ein bürgerliches Leben mit Frau und Tochter geführt. Auch wenn der Film den üblichen Mustern einer filmischen Biografie folgt, wer sich für Fotografie und deutsche Geschichte interessiert, ist hier richtig.

Sehenswert***

 

 

AGAINST THE TIDE  [Indien / Fischer / Alltag]

Frankreich, Indien 2023 / 97 Minuten / OmeU

Rakesh and Ganesh sind nicht nur beste Freunde sondern auch Fischer und gehören in Mumbai zur Karste der Koli. Rakesh ist arm, hat aber ein eigenes kleines Fischerboot und ist gerade Vater geworden. Ganesh gehört zur Mittelklasse betreibt ein großes Boot mit mehr Köpfiger Besatzung und kann weiter hinaus für mehrere Tage aufs Meer fahren. Beide kämpfen mit den schwindenden Fisch-beständen und wenn sie ihre Netze an Bord hieven, ist oft die Hälfte der Füllung Plastik Müll. Als das Kind von Rakesh krank wird, fallen viele Kosten an und schließlich muss er sein Boot verkaufen. Aber auch Ganesh hat sich verspekuliert und verliert seine Wohnung, den Schmuck der Frau und muss sein Schiff aufgeben. Der Film gibt einen Einblick in die alltäglichen Sorgen zweier Fischerfamilien über die Spanne eines Jahres hinweg.

Sehenswert***

 

 

APOLONIA, APOLONIA  [Künstler Portrait / Weg zum Erfolg]

Dänemark 2022 / 116 Minuten / OmeU

Apolonia ist ein Pariser Theaterkind, gezeugt und aufgewachsen in einem kleinen Theater als Schauspielerkind. Der Film entblättert ihre Lebensgeschichte und begleitet sie über Jahre hinweg bei ihrem Weg, in der Kunstwelt als Malerin Fuß zu fassen. Die Filmemacherin ist mit Apolonia befreundet und sucht sie immer wieder auf, an den verschiedenen Orten ihres Wirkens, in Paris, New York, Los Angeles Kopenhagen und Paris und bringt am Rande auch ihre eigene Geschichte mit ein. Es ist ein schwieriger Weg bis sich schließlich doch ein Erfolg einstellt.

Sehenswert***

 

 

IRON BUTERFLIES  [Krieg / Flugzeugabsturz]

Ukraine, Deutschland 2023 /

Wie Schmetterlinge sehen die Löcher aus, die der Splittermantel des Sprengkopf einer BUK Flugabwehrrakete in die Zielobjekte reißt. Am 17. Juli 2014 wurde das Malaysia Airlines Flugzeug MH17 über der Ukraine von einer russischen Buk Rakete getroffen. 298 Insassen kamen dabei ums Leben. Kurz nach dem Abschuss wurden die verschiedensten Falschbehauptungen in die Welt gesetzt um den Hintergrund des Abschusses zu Verschleiern. Der Film versucht die Faktenlage zu klären und berichtet von den Vorgängen bis zum Prozess vor dem Niederländischen Strafgericht.

Sehenswert***

 

 

NON-ALIGNED:  SCENES FROM LABUDOVIC REELS  [Wochenschau / Blockfreie Staaten / Portrait]

Montenegro, Serbien, Frankreich, Kroatien, Katar 2022 / 100 Minuten / OmeU

Stevan Labudovic war Titos Kameramann, denn der Jugoslawische Präsident hatte früh erkannt, wie wichtig der Einfluss der Wochenschau für die öffentliche Meinung ist. Als Mit-Sieger des zweiten Weltkrieges hatte sich Tito früh von den Blöcken USA /UDSSR distanziert und war seinen eigenen Weg gegangen. Auf der Suche nach Verbündeten den Non-Aligned  (Blockfreien Staaten) fand 1961 in Belgrad eine Konferenz statt. Um das Filmmaterial das Stevan von diesem Weltereignis mit seiner Arriflex aufnahm und das auf 35mm Film in einem Belgrader Archiv lagerte, dreht sich dieser Film und natürlich auch über den geschichtlichen Hintergrund der Blockfreien Bewegung. Und weil Stevan Ladudovic noch lebt kann er auch über andere Abenteuer erzählen…

Sehenswert***

 

 

WIR WAREN KUMPEL  [Kohleausstieg / Umbruch]

Deutschland, Schweiz 2023 / 105 Minuten / dtOmeU

Dieser Cinemascope Film begleitet 5 alt gediente Bergarbeiter*innen der RAG bis zum Schließen der Zeche 2018 und in die Zeit danach, in der das Gewohnte weggebrochen ist und das Ungewisse beginnt. Nur Martina hat, zuvor als Martin in der Kohle tätig, einen neuen Job im Salzbergbau gefunden. Thomas, der in der Zeche für die Arbeitskleidung und die Sanitärräume zuständig war, putzt jetzt daheim die Wohnung und Wolfgang hat in der Zeit vor der Schließung noch den Busfahrerschein erworben und fährt Schulkinder. Auch die Beziehungen und alten Freundschaften ändern sich.

Sehenswert***

 

 

FREE MONEY  [Afrika / Bedingungsloses Grundeinkommen / Hilfsprogramme]

USA, Kenia 2022 / 74 Minuten / OmeU

Ein Dorf in Kenia. Eine Kolonne von sechs Motorrädern rollt auf das Dorf zu. Es findet ein Treffen im Freien statt und eine Besucherin erklärt den Dorfbewohnern etwas Unglaubliches. Für die Nächsten 12 Jahre soll jeder 22 $ monatlich erhalten, einfach so. Es ist ein Experiment. Funktioniert das bedingungslose Grundeinkommen und welche Folgen hat es auf die Begünstigten und ihr Umfeld?   Viele Dorfbewohner glauben nicht an das Versprechen und sind skeptisch. Das Geld kommt von GD Give Direktly, einer NGO die durch direkte Transferleistungen über Telefon die Verteil Kosten  und Verwaltungsarbeit senken will. 93 % der Spenden sollen direkt beim Empfänger ankommen. Die Filmemacher begleiten das Experiment. Man verweilt bei den Dorfbewohnern und blickt hinter die Kulissen vom Give Direktly, einer Organisation, die schnell wächst, auch weil die direkte Weitergabe ein bestechendes Argument ist. Die Begeisterung in Kenia flaut ab, es gibt neidische Nachbarn und diejenigen, die aus dem Programm flogen, sind frustriert. Über 4 Jahre wird die Situation beobachtet und das Experiment soll noch bis 2031 laufen. Die Effizienz wird bezweifelt.

Sehenswert**

 

 

ADIEU SAUVAGE  [Indigene Völker / Regenwald]

Belgien 2023 / 82 Minuten / OmeU

Der Filmemacher – selbst aus der indigenen Bevölkerung Kolumbiens stammend -  begibt sich von Belgien aus auf eine Reise zu den Urwald Bewohnern in Kolumbien mit der Frage, warum begehen so viele junge Menschen dort Selbstmord. Es ist ein Reisefilm, gedreht in schwarz-weiß, und der Filmemacher ist selbst Teil der Geschichte. Er trifft in der Region Vaupés auf einen spanisch sprechenden  Dorfbewohner des Cacua Tribes und findet Aufnahme in der Familie. Im Austausch mit seinem Gastgeber erfahren wir viel über die Lebensumstände und die Einstellung zu Natur und den Beziehungen untereinander.

Sehenswert**

 

 

AND THE KING SAID WHAT A FANTASTIC MACHINE   [Geschichte der Fotografie / Medienkritik]

Schweden 2022 / 85 Minuten / OmeU

Mit der fantastischen Maschine ist die Kamera gemeint. Der Film beginnt mit einer Kamera-Obscura und dem Staunen von Passanten, wenn sie auf einer Mattscheibe ein reales Bild der Umgebung auf den Kopf stehend bestaunen. Wir erhalten eine kurze Einführung in die Geschichte der Fotografie: Niépce 1826 erstes Foto, Mybridge Serienfotografie, 1890 erste Projektion von Bewegtbild und 1895 der Zug, der in den Bahnhof einfährt. Über Riefenstahls Propaganda Filme und der Dokumentation der KZ Befreiung kommt die Erzählung zum Fernsehen, zu Shows und zum Werbeprogramm, um dann aus einem ethnologischen Film von 1969 zu zeigen, dass es nicht ein Selbstverständnis ist, auf einem Portrait Bild  sich selbst erkennen zu können. 300 Millionen Bilder werden inzwischen jeden Tag veröffentlich, weiß der Film. Ein großer Teil dieses aus viel Archivmaterial kompilierten Films widmet sich der manipulierenden Art von Bildern und Filmen im TV, auf Youtube und den Socialmediakanälen. Am Ende fällt eine Action Kamera aus einem Flugzeug, stürzt in einen Bauernhof zeigt den Himmel und wird dann von einem Schwein gefressen.

Sehenswert**

 

 

ETILAAT ROZ  [Afganistan / Pressefreiheit]  Eröffnungsfilm

Afghanistan 2022 / 93 Minuten / OmeU

Warten auf die Taliban, so kann man den Inhalt des Films umschreiben, und um es kurz zu machen:

Sie kommen nicht, dafür gehen die Wartenden. Eines dieser typischen Häuser in Afghanistan, ein Hof, eine Mauer ein Eisentor und die Innenräume eines alleinstehenden Zweckbaus für Büro oder Wohnen. Es ist die Redaktion von Etilaat Roz, der meist gelesenen Zeitung in Kabul. Herausgeber Zaki Daryabi und das ungefähr 50 köpfige Redaktionsteam werden von einem Insider vom 15. August bis zum 27. September 2021 beobachtet. Dabei verlässt die Kamera das Redaktions-Areal nur in der letzten Einstellung, als der Herausgeber als einer der letzten in ein Auto steigt.  Man erlebt Menschen unter Stress und in der Ungewissheit, aber wie sich die Geschichte damals entwickelt hat, wissen wir im allgemeinen und die individuelle Sicht fügt dem nichts wesentlich neues hinzu.  Warum auch immer man diesen Film ausgewählt hat, um das Festival zu eröffnen, danach kann es nur besser werden.

Sehenswert*

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