29. April 2025
Der Dirigent Simon Rattel aus dem Film Simon. 40 Jahre sind ein Grund zum Feiern. Aus einer kleinen Initiative der Arbeitsgemeinschaft Dokumentarfilm entstanden, ist in 40 Jahren aus der Veranstaltung ein Publikumsfestival gewachsen.
Am Mittwoch dem 7. Mai eröffnet das 40. Internationale Dokumentarfilmfestival München, wieder als duales Festival: vom 7. bis 18. Mai in den Münchner Kinos und ab dem 12. Mai bis zum 25. Mai auf der heimischen Leinwand mit 90% der Filme @home (www.dokfest-muenchen.de).
Die Eröffnungsveranstaltung findet am Mittwoch dem 7. Mai um 19.30 Uhr im Deutschen Theater in München auf Einladung statt. Als Eröffnungsfilm wird Friendly Fire gezeigt.
Die Tickets kosten dieses Jahr fürs Kino 11,00 € (ermäßigt 9,00 €), für @home Streaming (90% der Filme) 5,00 €. Ein Festivalpass kostet für das Kino 80,00 € und für Streaming 50,00 €. Es gibt Filme, die online nicht verfügbar sind, und welche die ein limitiertes Ticket-Kontingent haben.
Das 40. Dokfest München in Zahlen (2024 in Klammern):
105 Filme (109)
1400 Einreichungen (1282)
58 Länder (51)
19 Weltpremieren (28)
56 Deutschlandpremieren (55)
16 Wettbewerbe und Preise (16)
3 Hauptpreise und 13 weitere
23 Spielorte in München (19)
200 Filmgespräche ca. (150)
65 tausend Euro Preisgeld (65)
1300 Akkreditierte ca. 1250
16 Themenreihen
??? tausend erhoffte Besucher, in 2024 waren es 54.000 Besucher
Und weil sich jetzt die Regisseure bei der Anmeldung auch einordnen müssen, weiß man, dass 51 % männlich, 48 % weiblich, 1 % divers sind.
Die ganze Stadt spielt Dokumentar-Film.
Projiziert wird in den Kinos: City + Atelier, Rio, Filmmuseum, Neues Rottmann, Neues Maxim, Kino Solln und in der HFF, dem Deutschen Theater, dem Amerikahaus, dem Literaturhaus, Lenbachhaus, im Bellevue di Monaco, der Pinakothek der Moderne, dem Gasteig HP8, dem NS Dokumentationszentrum, dem Staatlichen Museum Ägyptischer Kunst, den Kammerspielen, Einstein 28, Muffathalle und der Pasinger Fabrik. Neu als Abspielstätten hinzugekommen sind das Bergson Kunstkraftwerk in Aubing und das Münchner Volkstheater. Es gibt auch wieder ein Open Air Kino in Cooperation mit Ciné Vélo Cité.
Die Retrospektive des diesjährigen Dokfest versammelt Higlights der vergangenen 40 Jahre des Festivals.
Festival Leiter Daniel Sponsel (l.) wurde zu höherem berufen, Nachfolgerin Adele Kohout ist schon seit 18 Jahren im Team des Festivals.
Bei 105 Festival Filmen sind 16 Themenreihen eine ganze Menge. Sie sind alle neu benannt und sollen schon durch ihre Benennung konkret ausdrücken, was gemeint ist. Hier alle der Vollständigkeit halber:
Nie wieder ist jetzt? – Filme über Erinnerung und Widerstand
Crossing Boundaries – Grenzüberschreitungen: Filme über Migration und ihre Realitäten
Reframing History – Filme darüber, wie die Vergangenheit unsere Gegenwart formt
Macht euch die Erde untertan? – Filme über die Beziehung zwischen Mensch und Natur
Empowered – Filme über Aufbegehren und Selbstermächtigung
This Is America – Filme über die zerrissenen Vereinigten Staaten
In guter Gesellschaft? – Filme über das Leben und Zusammenleben
Coming-of-Age – Filme über Kindheit und Erwachsenwerden
Brave New Work? – Filme über Realitäten der Arbeitswelt
Family Affairs – Filme darüber, wie wir lieben und streiten
Stranger Than Fiction – Filme zwischen Realität, Archiv und Essay
The Sound of Music – Filme über Musiker*innen und ihre Geschichten
About Art – Filme über Künstler*innen und ihre Welten
Filmmaking in Exile – Filme über das Filmemachen fern der Heimat
African Encounters – Filme und Dialoge über Klimagerechtigkeit
Die Preisträgerfilme sind jetzt auf die 16 Reihen verteilt und nicht mehr in einer eigenen Reihe zusammengefasst.
Die Auswahl der hier 20 vorgestellten Filme erfolgte auf Grund der kappen Beschreibungen in einer ersten Festivalliste und ist natürlich von subjektiven Interessen geleitet. Hätte ich nach Bildern aussuchen können, wäre es vielleicht anders gelaufen.
Die Namen der Macher spielen bei der Auswahl keine Rolle, deswegen sind sie hier konsequent weggelassen. Bewertet wird nur das, was man sieht.
Auffallend viele der Filme fallen in die Kategorie „Portrait“ und erzählen die Geschichte einer Person A deeper Glimps, Endlich unsterblich, In Hell with Ivo, We all bleed red, Simon, Ai Weiwei, Widow Champion, At the Door, Friendly Fire.
Immer mehr Kameraleute wagen sich an das Scopeverfahren mit Verhältnissen 1:2 bis 1:2.5 heran, ohne dass es dafür triftige Gründe gibt, und dann im Resultat oft nur eine belanglose Hauswand 30% des Bildes ausfüllt. (Azza / Endlich unsterblich / A sudden glimpse to deeper things / Soldaten des Lichts). Manchmal tut dann das 4:3 Format richtig gut (Double Trouble).
Viele der Filmemacher sind persönlich in ihren Film involviert, zumindest mit den Protagonisten verwandt (Wir Erben / Mr. Nobody against Putin / Double Trouble / Friendly Fire).
Eine Wohltat sind beobachtende Dokumentarfilme die nichts beweisen wollen, sondern einfach nur etwas zeigen, so wie der 4-Stundenfilm Palliativstation,
und die Filme At the door of the house who will come knocking, und Double Trouble
Es gibt keine visuellen Gags oder neuen Moden, und auch Drohnenaufnahmen kommen nur selten vor, ebenso wie deutlich erkennbare KI Tools.
Die Filme:
AT THE DOOR OF THE HOUSE WHO WILL COME KNOCKING [Dorfleben, Beobachtung, Alter]
Serbien, Bosnien und Herzegowina 2024 / 84 Minuten 16:9
Der alte Mann, das Pferd, der Hof und der Schnee. Aus diesen Zutaten ist dieser Film gemacht, ohne Schwenk, ohne Fahrt, ohne Zoom. In starren, langen Einstellungen erzählt er den Alltag eines alten, alleinlebenden Mannes, der gelegentlich mit Igman, seinem Pferd spricht. Er befreit den Trog vom Eis, hackt einen Baum für Feuerholz um und stapft durch den Schnee der hügeligen Berglandschaft. Der Nachbar, der zufällig vorbeikommt hat es eilig.
Einer der wenigen Dokumentarfilme die sich auf das Beobachten beschränken, auch wenn kurz mal Visionen durch die Bilder geistern.
[sehenswert****]
AZZA [Emanzipation, fremde Welten, Frauen in anderen Kulturen]
Deutschland 2025 / 87 Minuten
Es ist ein Auto-Film. Wir sehen die Hauptperson sehr oft im Auto und das Auto spielt eine ganz besondere Rolle in ihrer Geschichte. Azza lebt in Dschidda in Saudi-Arabien, wurde als 16-Jährige verheiratet hat vier Kinder aus erster Ehe und hat sich scheiden lassen. Um die Scheidung durchzusetzen ist sie mit dem Auto des Mannes in die Stadt gefahren und hat ihm gedroht, ohne seine Zustimmung bekomme er den Wagen nur in Einzelteilen zurück. Sie arbeitet als Fahrlehrerin für Frauen. Besser qualifizierte Jobs bekommt sie mangels fehlenden Schulabschlusses nicht. Der Film, im Breitwandformat aufgenommen, vermittelt eine große Intimität zwischen Macher und Protagonist und bisweilen meint man, die Autorin sei mit Azza alleine unterwegs gewesen, obwohl da ein größeres Team war. Die Dreharbeiten fanden über einen Zeitraum von drei Jahren statt. Auch das merkt man dem Film kaum an. Geschickt ist er zu einem Portrait einer Frau montiert, die sich schrittweise aus den Zwängen einer patriarchischen Gesellschaft befreit.
[sehenswert***]
BLAME [Wissenschaft, Gesundheit, Politik]
Schweiz 2025 / 121 Minuten / 16:9
Die Frage, wie die Corona Pandemie in die Welt kam, ist letztlich nicht abschließend geklärt. Der Film erzählt von drei Wissenschaftlern, die seit dem SARS Ausbruch von 2003 zusammenarbeiten, von Linfa Wang aus Singapore, von Zhenqli Shi aus Wuhan und von Peter Daszak aus New York. Sie haben ein Ziel vor Augen. Sie erforschen Viren, um bei einem möglichen nächsten Ausbruch vorbereitet zu sein und sie untersuchen, wie Fledermäuse die Viren in sich tragen können, ohne zu erkranken. Von den Forschenden werden sie in der Öffentlichkeit langsam zu den Schuldigen, allen voran Peter Daszak, der der Nicht-Regierungsorganisation EcoHealth Alliance vorstand. Es ist einfacher und bequem, jemanden als Verursacher zu beschuldigen, als den Versuch zu unternehmen, komplexe schwierige Vorgänge zu verstehen.
[sehenswert****]
DOUBLE TROUBLE [Dorfleben, Beobachtung, Frauen, Alter]
Deutschland, Polen 2025 / 72 Minuten
Hanka et Bronka, zwei ältere Witwen sind Nachbarinnen in einem polnischen Dorf nicht weit von der ukrainischen Grenze. Der Film beobachtet sie im 4:3 Format bei den alltäglichen Arbeiten, bei der einen oder der anderen auf dem Hof, beim Kartoffelernten, Mähen, Hühnerschlachten, Brombeersuchen und bei gemeinsamen Mahlzeiten. Sie reden unentwegt über sich, über ihre Sorgen und über das, was sie bedrückt und was sie tun. Die gemeinsamen Szenen im Film sind wie Auftritte und werden eingeleitet von einer vierköpfigen Männer Blasmusik Gruppe, die auch die Musik zum Film beisteuern und damit die Handlung kommentiert. Über die Jahreszeiten sehen wir immer neue Situation und: Nein - keine der beiden stirbt am Ende.
[sehenswert****]
ENDLICH UNSTERBLICH [Musikfilm, Portrait, Konzertfilm]
Deutschland 2024 / 81 Minuten
„Endlich unsterblich“ begleitet Florian Paul und die Kapelle der letzten Hoffnung auf einer Tournee durch verschiedenste Auftrittsorte in Deutschland von Großstätten bis in die Provinz. Sie sind zu fünft und Florian Paul ist der Motor, der antreibt und die Texte der Lieder schreibt, die auf Deutsch vorgetragen werden. Aus dem Off spricht er der Filmemacherin seine Gedanken ein, die dem Film den notwendigen Zusammenhalt und einen Einblick in ein Musikerleben der Jetztzeit geben. Als Bildformat hat man Superscope gewählt, wird aber nicht immer dem Anspruch des breiten Bildes gerecht, wozu auch eine exzessive Verwendung eines Weitwinkelobjektivs führt.
[sehenswert**]
IN HELL WITH IVO [Transgender, Musikfilm, Künstlerportrait]
Bulgarien, USA 2025 / 80 Minuten
Ivo Dimchev ist ein Star der bulgarischen Theater, Tanz und Performance Szene. 2020 wird sein Arbeitsfeld von den Coronabestimmungen getroffen und er beschließt bei seinen Fans private Home-Konzerte zu veranstalten. Fortan tritt er in Villen, schlichten Neubauwohnungen und auch in den Quartieren der Roma auf, singt und interviewt anschließend sein Publikum. Der Film zeigt ihn auch privat und daheim bei seinen Eltern, die mit seinem homosexuellen, queeren Leben fremdeln. Auf einer USA Reise, initiiert er ein Theaterprojekt, das dem Publikum die Frage stell: Wollt ihr lieber mit Trump in den Himmel oder mit Jesus in die Hölle? In dem Film gibt es einen schönen dokumentarischen Moment, als Ivo vor seinen Eltern spielt und ihnen dann Fragen stellt. Ansonsten haben die Macher die Chance sowohl von der Kamera (wie trash TV) aber ganz besonders von der Regie her verbockt, sind den Ereignissen wahllos hinterhergelaufen und zeigen viel zu viel und Weniges, was zu einem Ende kommt. Aber allein wegen Ivos Stimme sehenswert.
[sehenswert***]
PALLIATIVSTATION [Beobachtung, Alter, Sterben]
Deutschland 2025 / 244 Minuten 16:9
Schon der Titel und die Laufzeit lassen einen an die Filme von Frederick Wiseman denken, lange Beobachtungen in gesellschaftlichen Institutionen. Wer schaut sich einen vier Stundenfilm über eine Palliativstation an? Sie werden es mögen! Gerade weil sich der Film so viel Zeit nimmt, genauso wie der Arzt und die Mitarbeiter der Station für ihre Patienten. Wer auf die Palliativstation kommt, der weiß, dass medizinische Therapie augenblicklich aussichtslos erscheint und es nur mehr um das Wohl des Patienten geht. Es geht um das Sterben, manche sind vorbereitet andere hardern mit ihrem Schicksal. Die Kamera schaut zu, und Einstellungen können bis zu 10 Minuten dauern, immer der gleiche Blick. Alles ist aus der Hand gedreht, das Bild bebt leicht und bei aller Statik und Ruhe ist es doch lebendig. Es gibt keine Fragen und der Macher bleibt unsichtbar. Auch die Menschen vor der Kamera würdigen sie keines Blickes. In der letzten Lebensphase ist Sein und Schein so unbedeutend, dass die Patienten ihre Einwilligung zu den Filmaufnahmen gegeben haben und ihre Verletzlichkeit nicht mehr verbergen. Zwischen den Teambesprechungen und Patienten Gesprächen sorgen die Raumpfleger in den Gängen für kurze Erholungspausen.
[sehenswert*****]
PING PONG PARADISE [Sportfilm, Wettkampf, Vereinswesen, Männerwelten]
Deutschland 2024 / 116 Minuten 16:9
Profi Tischtennis hat nichts mit dem zu tun, was man an der heimischen Platte aufführt. Disziplin und tägliches Training sind die Voraussetzungen für eine Karriere. Das öffentliche Interesse ist überschaubar. Der Film folgt dem Team des TTC-Neu Ulm, einer Neugründung aus 2019, hinter der der Verleger Florian Ebner steht, der unter anderem die Zeitschrift Film&TV Kamera herausgibt. Im Bild erleben wir die 2023 Spielsaison in der das Team den DTTB-Pokal gewinnt, aber im Champions-League-Halbfinale knapp gegen Borussia Düsseldorf verliert. Wegen Querelen mit dem Verband kommt es in 2024 zur völligen Auflösung des Vereins.
Im Film sehen wir Training, Wettbewerbe, den Trainer, der Ratschläge gibt und ausschließlich Männer, die sich mit Hand-Schlag-Ritualen vor und nach dem Spiel begegnen. Bisweilen unterscheidet sich der Sport an der Platte in den Hallen nicht wesentlich von der Industriearbeit am Fließband und die Schönheit von Spielzügen wird erst am Ende in der Zeitlupe sichtbar und bleibt dem Live-Zuschauer in der Halle weitestgehend verborgen.
[sehenswert*]
SOLDATEN DES LICHTS [Parallelwelten, Esoterik, Spiritismus]
Deutschland 2024 / 108 Minuten / Cinemascope
Es ist eine Art Wohngemeinschaft mit veganen-ökologischen Ernährungskonzept, ein bißchen Fittnesstudio und ein vegetarisches Cafe, in das die Kamera hineingeraten ist.
“Verhalte dich zu allem verbunden und alles Leid ist überwunden”, mit solchen Sinn-Sprüchen gibt David bekannt in Social Media als „Mr. RAW“ den Ton an. Vorher war er im Vertrieb erfolgreich jetzt ist er ein grandioser Selbstvermarkter zwischen Ernährungsberater, Onlineshop Betreiber, Ausbeuter und Youtuber. Damit das Geschäftsmodell funktioniert werden reale Follower aufgenommen, die gegen Kost, Logie und Ernährungsberatung die anfallenden, schnöden Arbeiten erledigen, so auch Timo, der sichtlich gestört ist und psychische Probleme hat. Eine „Entgiftung“ durch Diät und vegane Ernährung soll helfen. Die herbeigeredeten Besserungs-Prozesse glaubt er selbst zu spüren, sie sind im Bild über die Zeit aber nicht sichtbar. Religiöses, Esoterisches, Spirituelles wird mit Ernährungsideen und Jogastücken zu einem kruden Weltbild zusammengemischt, bei dem auch die Erde eine Scheibe sein darf, weil das schließlich in einem Buche steht. Damit aber nicht genug. Man sieht sich auch als Anhänger des KRD (Königreich Deutschland) eines „Peter des 1.“ aus dem Umfeld der Reichsbürgerbewegung. Ein wunderbarer Einblick in eine absurde Parallelwelt.
[sehenswert****]
THE BATTLE FOR LAIKIPIA [Afrika, Siedler, Klimawandel, Dürre]
Kenia, USA, Griechenland 2024 / 94 Minuten 16:9
Der Film beginnt mit dem touristischen Blick auf Kenias Wildtiere in einer privaten Wildtier Schutzgebiet in Laikipia County im Norden von Kenia. Ein großer Teil der Bevölkerung gehört dem Stamm der Samburu an und betreibt die sogenannte Pastorale Vieh-Wirtschaft. Man zieht mit dem Vieh durch die karge Landschaft und ist als Nomade ambulant unterwegs.
Gleichzeitig gibt es in Laikipia große Farmen oder Conservancys im Besitz weißer Kenianer. Diese sind meist umzäunt und hindern den Durchzug der Nomaden mit ihren Tieren. In der großen Dürreperiode 2022-2023 eskaliert die Situation. Nomaden dringen mit ihren Tieren auf die besseren Weiden der Rancher vor und es kommt zu Gewalttätigkeiten. Der Film verfolgt über eine längere Zeit die Konfliktparteien und gibt Einblick in den Alltag und die Nöte beider Seiten.
[sehenswert***]
THE END OF THE INTERNET [Kommunikationstechnik, Internet, Konzerne]
Deutschland, Kanada, Spanien 2025 / 85 Minuten 16:9
1959 entstand vor dem Hintergrund eines möglichen Atomschlags die Idee zu dezentralen Kommunikationsnetzwerken, die einen solchen Angriff ohne Totalausfall überstehen können. Dazu wurde ein Netz mit Knoten Punkten und die Übertragung von Informationspaketen entworfen und eine hierarchische, zentralistische Struktur vermieden. Im Internet sollten alle Informationen und Teilnehmer gleichwertig behandelt werden. Dem ist längst nicht mehr so. Durch wenige globale Player ist das World Wide Web sehr zentralistisch und kontrollierbar geworden. Der Film besucht Leute in Berlin, Taiwan, Katalonien, Miami und im brasilianischen Regenwald, die sich gegen diese Machtkonzentration wehren und eigene Strategien entwickelt haben.
[sehenswert****]
THE INVISIBLE CONTRACT [Frauen, soziale Hierarchien, fremde Welten]
Mexiko 2024 / 85 Minuten 16:9 / 4:3 s/w
Sie heißen Rosabella, Goyita, Aurora, Claudia, Rosalla und säubern die öffentlichen Plätze in Mexico City, Toiletten, das Kino der Cinemathek, den Flughafen, die Straßen, die Metro. Und sie werden vom Rest der Bevölkerung oft genauso behandelt, wie das was sie beseitigen sollen, den Schmutz und Müll.
Alle sind Frauen. Einen Vertrag, der die Arbeit genau beschreibt, bekommen sie nicht, weil die öffentliche Hand die Arbeit an Subunternehmer delegiert hat. Der schwarz/weiß Film begleitet die Frauen oft in den Abendstunden bei ihrer Tätigkeit auf der Straße. Die beobachteten Szenen sind in 16:9 gedreht, die gesetzten Interviews und Statements in 4:3. Manche der Protagonisten werden zu ihrem Schutz von Schauspielerinnen nachgespielt. Am Rande bekommt man auch einen Einblick in die privaten Wohnverhältnisse dieser Frauen. Ein heilsamer Film für alle, die mit unseren gesellschaftlichen Verhältnissen unzufrieden sind.
[sehenswert****]
WE ALL BLEED RED [Fotografenportrait]
Deutschland 2024 / 87 Minuten 16:9
Filme über Fotografen sind ein sicheres Geschäft, schließlich steuert der Protagonist mit seinen Bildern doch einen wesentlichen Teil zum Endprodukt bei. Der deutsche Martin Schoeller ist in den 90er Jahren nach New York ausgewandert und hat sich eine besondere Methode der Portraitfotografie erarbeitet, die er selbst als Close-Ups bezeichnet. Die Ergebnisse seiner Arbeit sind so verlässlich wie die eines Passbildautomaten, natürlich auf höchstem Niveau und in analoger Großbildtechnik. Gott und die Welt hat vor seiner Linse gesessen, Prominente aus Politik, Wissenschaft und Kultur, wie Trump, Obama, Clinton, Eastwood und weitere hunderte von Prominenten, aber auch Menschen am Rande der Gesellschaft, wie Obdachlose, die er in LA ins Studio eingeladen hat. Und weil die Fotografie durch die digitale Technik sich stark geändert hat, probiert er Neues mit seinen Moving Portraits, Bilder unter gleichen Bedingungen, nur das sie sich jetzt bewegen und man im Off den O-Ton der Protagonisten hören kann.
[sehenswert**]
WIDOW CHAMPION [Afrika, fremde Welten, Frauen Rechte]
Kenia 2024 / 90 Minuten 16:9
In diesem Film begegnen wir Frauen im Kisumu Distrikt nahe am Viktoriasee in Kenia. Alle haben eines gemeinsam: Sie sind Witwen. In der Tradition Kenianischer Volksstämme bezahlt der Mann für die Braut, die dann bei ihm auf dem Hof lebt. Sollte er sterben, dann übernimmt einer der Brüder die verwitwete Frau und sorgt für sie. Was so fürsorglich klingt hat eine dunkle Seite, denn oft geht es der Verwandtschaft nur um den Besitz und Sex und viele verwitwete Frauen werden mit ihren Kindern vertrieben. Die meisten Witwen sind rechtelos, es sei denn der Mann sorgt vor. Der Film begleitet die Witwe Rodah, die sich das Problem der Leidensgenossinnen zu eigen gemacht hat und nun ihnen mit Rat und Tat zur Seite steht. Über mehrere Jahre sieht man einzelne Fälle in denen sich Rodah engagiert und eine Mediation mit dem Ältestenrat initiiert. Man kommt den Ritualen solcher Verhandlungen nahe, erlebt Interessenausgleich und Versöhnung unter der Anleitung der Ältesten. Bei allem spielt das HIV-Virus im Hintergrund eine Rolle. Stirbt ein Ehemann wird oft die Frau dafür verantwortlich gemacht. Ein Einblick in den afrikanischen Alltag.
[sehenswert***]
WIR ERBEN [Eltern, Familiengeschichte]
Schweiz 2024 / 96 Minuten 16:9
Die Eltern waren Pioniere der ökologischen Landwirtschaft in der Schweiz und lange Zeit in der Politik aktiv bevor sie zur Jahrtausendwende nach Frankreich auswanderten und dort einen größeren Hof bewirtschafteten. Jetzt steht die Frage des Erbes an und einer der beiden Söhne verfolgt den Prozess der Entscheidungsfindung mit der Filmkamera. Wenn alle Familien so mit dem Besitz umgingen, gäbe es wenig Streit. So entstand ein einfühlsames Familienportrait in dem alle offen über ihre Vorstellungen und Wünsche reden und man auch noch einmal die unterschiedlichen gesellschaftlichen Prägungen am Verlauf der Familiengeschichte mitbekommt.
[sehenswert***]
SIMON! [Musikfilm, Kunst, Dirigenten Portrait]
Deutschland 2024 / 53 Minuten 16:9
Unter Musikern gibt es ganz viele Frühbegabte und oft schon haben diese Kinder eine genaue Vorstellung von ihrem Berufswunsch. Simon Rattle ist einer von ihnen und war schon mit 25 Jahren Musikdirektor des Birmingham Symphonie Orchesters. Seine Art, das wird in diesem Portrait Film klar, hat etwas sehr Einnehmendes und man muss ihn einfach mögen. Viele Weggefährten und Schüler schildern ihre Erlebnisse mit ihm. Dazwischen sieht man ihn bei Proben und wichtigen Aufführungen im Laufe seiner Karriere. Ein interessantes Portrait nicht nur für Musikliebhaber.
[sehenswert**]
AI WEIWEI'S TURANDOT [Oper, Künstlerportrait, Werkentstehung]
Italien, USA 2025 / 78 Minuten 16:9
„Ich bin nicht an der Oper interessiert und höre normalerweise keine Musik“, das ist der Einleitungssatz von Ai Weiwei. Die Oper in Rom hat ihm 2019 die Regie zu Puccinis Turandot übertragen und weil er knapp 40 Jahre zuvor als Statist an einer Inszenierung von Zeffirelli an der Met in New York seines Chinesischen Aussehens wegen mitgewirkt hatte, übernimmt er die Aufgabe und gestaltet sie zu einem vielfältigen Gesamtkunstwerk. Dabei kann man ihm in diesem Film zuschauen. Unterbrochen werden die Proben durch die Pandemie, die Aufführung fand dann ab März 2022 statt.
[sehenswert**]
MR. NOBODY AGAINST PUTIN [Russischer Schulalltag, Propaganda, Ukrainekrieg]
Dänemark, Tschechien 2024 / 87 Minuten 16:9
Pavel (Pascha) Talankin ist Eventkoordinator an der Mittelschule Nr. 1 in Karabash, einer unbedeutenden Stadt im Ural Gebirge 1800 Km östlich von Moskau. Seine Aufgabe umfasst neben der Organisation der Schulveranstaltungen auch die Dokumentation aller schulischer Aktivitäten auch die Dokumentation des Schulischen Umfelds mit Video. Sein Büro hat er so eingerichtet, wie den Raum, den er als Schüler der gleichen Schule immer vermisst hatte. Es ist ein Freiraum, den viele Schüler nutzen. Mit dem Beginn des Ukraine Kriegs ändert sich die Situation grundlegend. Plötzlich halten propagandistische und patriotische Inhalte Einzug in den Lehrplan und die Aktivitäten der Schule. Pavel kann das alles filmen, weil es zu seiner Aufgabe gehört. Sein Unwohlsein äußert er verhalten und bekommt über Social-Media Kontakt zu einem ausländischen Dokumentarfilmer, dem das Filmen in Russland verwehrt wird. Er verstärkt seine Aktivitäten und sammelt viel Material, erschein selbst im Bild und reflektiert seine Situation und die Probleme, die er mit der Propaganda hat, denn schon werden die ersten seiner ehemaligen Schüler eingezogen und in den Krieg geschickt. Als seine Situation zu schwierig wird, setzt er sich mit seinem Material in den Westen ab.
Ein sehr genau beobachtender Blick in die Russische Provinz mit den Veränderungen, die systematische Propaganda bewirkt.
[sehenswert*****]
A SUDDEN GLIMPSE TO DEEPER THINGS [Künstlerportrait, Frauenemanzipation]
Großbritannien 2024 / 88 Minuten / Cinemascope
Der Autor erzählt die Geschichte vom Ende her, indem er dem Zuschauer die Bilder einer älteren Dame präsentiert und über deren Beschreibung herausfindet, was an ihr besonders ist. Es handelt sich um Wilhelmina Barns-Graham (1912-2004), eine schottische Künstlerin aus adligen Kreisen. Ein Gletscherbesuch Ende der 50er Jahre wird mit Reenactment zu einem Erweckungserlebnis stilisiert (etwas nervig) aber unbestritten erkennt man schon in den Bildern und Skizzenbüchern dieser Frau ein Faible für Zahlen, Muster, Raster, Formen und Ordnung, der sich dann in ihren Bildern ausdrückt. Es ist sicher ein Unterfangen ein abendfüllendes Künstlerportrait einer Person zu schaffen, von der es keine Filmaufnahmen gibt und nur wenig Tondokumente. Immerhin lernt man jemanden kennen, dessen Werk mehr Aufmerksamkeit verdient.
[sehenswert***]
FRIENDLY FIRE [Vater-Sohn-Geschichte, Literat, Portrait, Spurensuche]
Deutschland, Österreich 2025 / 109 Minuten
Der Eröffnungsfilm ist eine Vater-Sohn-Geschichte und es geht um den Lyriker Erich Fried, der 1921 in Wien geboren wurde und 1938 nach London floh und ein viel gelesener Autor und Lyriker im Nachkriegsdeutschland war, ganz besonders in den 70er Jahren und zu Zeiten der außerparlamentarischen Opposition. Sie letztgeborener Sohn Klaus begibt sich mit dem Film auf eine Spurensuche bei Wegbegleitern seines Vaters und in der Verwandtschaft.
[sehenswert***]
Filmstills: Dokfest München, Text und Pressefotos HA. Lusznat