Die Arriflex Story 01

50 Jahre Werden und Wirken einer Filmkamera

Fast unbemerkt von der Fachwelt, wurde in diesem Jahr (1987) die 35-mm-Arriflex-Kamera, die erste Spiegelreflex-Filmkamera der Welt, 50 Jahre alt. Der KAMERAMANN beginnt in diesem Heft mit einem über mehrere Folgen laufenden Rückblick auf Entstehung und Entwicklung dieser epochemachenden Kamera.
1937 ist ein Rekordjahr in jeder Beziehung; auch für die Photo-Kino-Messe. Dieser Sonderteil der großen Leipziger Frühjahrsmesse kann als Vorläufer der Photokina bezeichnet werden. Deutschland rüstet auf und zeigt Leistung auf allen Gebieten. In Halle 12 auf dem Messegelände ist die Photo- und Filmtechnik untergebracht.
263000 Besucher, 25000 mehr als im Vorjahr drängen sich in den sechs Tagen zwischen dem 28. Februar und dem 5. März an den Ständen der 8893 Aussteller vorbei. Unter ihnen ist auch der 58jährige Guido Seeber, Kameramann und Leiter der Ufa-Trickabteilung. Sein besonderes Augenmerk richtet er auf die Koje einer kleinen Firma aus München; denn dort entdeckt er etwas, was er sich seit Jahren schon gewünscht hat und worüber er später im Branchenblatt »Der Photograph« schreibt:
Blättern wir in Eders großem Handbuch der Photographie, so finden wir, daß bereits 1860 das Prinzip unserer heutigen Spiegelreflexkameras patentiert wurde. Es lag eigentlich sehr nahe, auch die Kinokamera damit auszurüsten, zumal das beste Hilfsmittel in dem umlaufenden Verschluß, der den Film bei jedem Weitertransport gegen die vom Objektiv einfallenden Strahlen deckt, zu suchen ist. Man brauchte ihn ja nur zu verspiegeln und im Winkel von 45 Grad anzuordnen, und die herrlichste Möglichkeit, das Bild während der Aufnahme zu sehen, ist gegeben.
So dachte ich auch kurz nach dem Kriege, und das Patentamt antwortete mir auf eine diesbezügliche Anmeldung, daß der betr. Gegenstand bereits vor Jahren geschützt worden war, und zwar unter Nr. 275404, KI. 57a. Gruppe 37. Der Antwort lag eine Patentschrift bei, aus der ich näheres ersehen konnte.
Warum hat man nun bis heute keine praktische Ausführung dieses Gedankens im Handel entdecken können? Irgendeine versteckte Schwierigkeit mußte da vorhanden sein. Und jetzt erschien zur Leipziger Messe eine Handkamera, ganz modern konstruiert, sehr leicht, mit Revolverkopf und eben dieser Spiegelreflexeinrichtung. Das aufgenommene Bild kann man in voller Helligkeit während des Filmdurchlaufes auf einer Mattscheibe mit Hilfe einer sechs fach vergrößernden Lupe sehen und nötigenfalls scharfstellen.
Nachdem ich nun ca. 40 Jahre in der Filmpraxis stehe, war dies eine kleine Überraschung für mich, und ich hatte auch Gelegenheit, mit dem noch verhältnismäßig jungen Konstrukteur dieser Kamera zu sprechen. Ihm war zunächst noch völlig unbekannt, daß man so etwas schon einmal erdacht hatte, und zwar bereits vor dem Kriege. Ganz unbefangen ist er also ans Werk gegangen und die Praxis wird zeigen, ob das Problem als gelöst zu betrachten ist. Seltsamerweise hat die Kamera die gleiche Einrichtung, die der ehemalige Erfinder sich schon patentieren ließ, nochmals "erfunden«.

Der »verhältnismäßig junge Konstrukteur« ist der 26 Jahre alte Erich Kästner. 1932 ist der gebürtige Thüringer und Sohn eines Zeiss-Mitarbeiters bei der Münchner Firma Arnold & Richter eingetreten, und er ist zunächst der einzige Konstrukteur überhaupt.

Erich Kästner, als junger Konstrukteur bei Arnold & Richter entscheidend beteiligt an der Entwicklung der Arriflex 35 Kamera, hier im Jahre 1937 mit dem Prototyp. Die Kamera ist noch behelfsmäßig mit einer Linhof-Kassette ausgestattet und ohne Kompendiumhalterung.
(Foto: Amold & Richter)

Die Firma hat zu diesem Zeitpunkt knapp 40 Mitarbeiter, und der ganze Betrieb mit Kopierwerk, Werkstätten, Büro und Schneideräumen ist in einem Backsteinbau an der Türkenstraße untergebracht, dem heutigen Kopierwerk des Arnold & Richter-Blocks. Bei der Feier zum 15jährigen Firmenjubiläum1932 bekommt August Arnold den entscheidenden Anstoß für die Konstruktion einer Spiegelreflexkamera. Der Kameramann Josef Giselherr Wirsching und sein Kollege Attenberger wecken Arnolds Ehrgeiz, als sie die damals von Arnold & Richter fabrizierten Kinearris als Amateurkameras bezeichnen und nun endlich eine kleine, handliche Berufsfilmkamera fordern.
Beide haben sich schon seit langer Zeit eine Handkamera gewünscht, und irgendwann kommt die Spiegelreflexsucher-Idee hinzu. August Arnold gibt die Kamera in Auftrag, denn eine zeitgemäße Handkamera gibt es nicht, und Kästner beginnt mit der Konstruktion. Die Kamera nimmt bald Form an, doch alle praktischen Versuche, die Spiegelreflexeinrichtung zu realisieren, schlagen fehl. Die Planlaufgenauigkeit der verspiegelten Umlaufblende ist im erforderlichen Toleranzbereich beim besten Willen nicht zu erzielen. Die verfügbaren Kugellager haben zu viel Spiel, und mit Gleitlagern ist die erforderliche Genauigkeit erst recht nicht zu erreichen. Die Versuche werden abgebrochen. Der Kameramann Josef Wirsching wandert 1934 nach Indien aus. Er dreht dort übrigens 16 Spielfilme unter der Regie von Franz Osten alias Ostermayr.


 Der zwei Quadratmeter große Stand der Firma Arnold & Richter auf der Leipziger Messe 1937. (Foto: privat)

Zurück ins Jahr 1932. Aus damaliger Sicht ist es mehr als verständlich, daß man bei Arnold & Richter nichts mehr unternimmt, um diese Kamera marktreif zu machen.
Denn Arnold & Richter ist zu dieser Zeit alles andere als ein großer filmtechnischer Betrieb. Man baut zwar Kopiermaschinen und Amateurkameras (die Kinearri), vertreibt sie auch weltweit, doch alles spielt sich in geringen Stückzahlen ab. Nebenbei ist die Firma mit der Herstellung von Filmen beschäftigt und betreibt auch noch ein Kopierwerk. Alles ist klein und flexibel gehalten, und zwischendurch überlegt man auch, ob sich nicht mit der Herstellung von Klein-Drehmaschinen Geld verdienen läßt.
Anders schaut es bei der Konkurrenz aus. Die 1871 von Carl Bamberg gegründeten Askania Werke in Berlin-Friedenau sind bereits seit 1920 in der Herstellung von Normalfilmkameras erfolgreich und haben die Unterstützung der Ufa. Askania ist Anbieter auf dem Markt der Berufsfilmkameras für das 35mm Normalfilmformat. Die Askania Z ist damals die deutsche professionelle 35-mm-Filmkamera.
Im Atelier wird freilich noch die Debrie-Kamera bevorzugt. Neben Debrie gehören Bell & Howell und Mitchell zu den Anbietern aus dem Ausland. Die Eymo von Bell & Howell ist eine wichtige Aktualitätenkamera, doch nur mit Federwerk und 30-m-Spulen ausgestattet. Nach einer Verschnaufpause nimmt Erich Kästner 1936 bei Arnold & Richter die Versuche mit der Spiegelreflexkamera wieder auf. Inzwischen gibt es Präzisionskugellager, die eine höhere Planlaufgenauigkeit versprechen. Die Kamera soll neben der Spiegelreflexsuchereinrichtung mehr als 30 Meter, also mindestens 60 Meter Film aufnehmen, einen Objektivrevolver haben - Zoomobjektive bzw. Transfokatoren gibt es praktisch noch nicht -, sie soll leicht in der Hand liegen und mit einem Elektromotor ausgerüstet sein. Und sie soll stabil aus Metall gefertigt werden. Schnell wird klar, daß bei einer Doppelflügelblende die Auswuchtprobleme leichter zu beherrschen sind. Ein Jahr lang arbeitet der Feinmechaniker Rudolf Brüller in der Werkstatt im ersten Stock des Münchner Arri-Backsteinbaus an der Realisierung von Kästners Plänen und stellt alle Teile in Handarbeit her. Im Herbst 1936 ist es soweit: der Prototyp kann zum ersten Mal öffentlich vorgestellt werden, bei einer Veranstaltung in der Berliner Kroll Oper. Die Kassette ist noch nicht fertig, und so behilft man sich mit einer Linhof-Kassette aus dem Firmenfundus. Auch der Elektromotor ist behelfsmäßig in einem Gehäuse untergebracht.
Der Kontrastumfang der Testaufnahmen ist leider nicht zufriedenstellend. Die Aufnahmen sind flau. Erich Kästner baut daraufhin die Mattscheibe aus und macht weitere Tests, und die Aufnahmen zeigen den gewohnten Kontrastumfang. Vor allem bei längeren Brennweiten fällt Licht auf die Mattscheibe, wird als Streulicht reflektiert und verschleiert den Film. Deshalb wird die Mattscheibe mit abschirmenden senkrechten Blechlamellen (Mattscheibengrill) versehen, die das Streulichtproblem lösen, aber als fünf senkrechte Linien im Sucherbild erscheinen.
Zur Leipziger Messe 1937 ist die Kamera komplett in ihrer endgültigen Form fertig, mit Leichtmetallkassette und Kompendium. Der Arri-Messestand in Leipzig, gleich neben
Askania, ist nur gute zwei Quadratmeter groß. Auf dem Tisch werden zwei Scheinwerfer, ein Kopierautomat und eine Lochstanze präsentiert, mitten drin auf einem Fotostativ die hell lackierte Arriflex-Kamera. Sie kostet 2500 Reichsmark mit Kompendium, Handgriffmotor, drei Astro Pantacharen F1,8  30 mm / 50 mm / 75 mm, zwei 50-m-Kassetten und Batteriekasten.
Das scheint aus heutiger Sicht sehr wenig Geld zu sein. Doch zur gleichen Zeit verdiente ein Metallfacharbeiter im Durchschnitt 80 Pfennig in der Stunde, arbeitete zwischen 54 und 50 Stunden pro Woche und hatte acht Tage Urlaub im Jahr (wenn er schon mehrere Jahre beim Betrieb beschäftigt war). Das Pfund Mehl kostet 15 Pfennig, ein Ei 10 Pfennig, ein Pfund Gulasch 1,00 RM und ein Paar Halbstiefel 11,50 RM. Lebensmittel und Rohstoffe sind knapp und Kriegsvorbereitungen im Gange.
Arnold & Richter schaltet nach der Messe noch zwei Anzeigen in der einschlägigen Fachzeitschrift »Kinotechnik«, doch dann wird es zunächst still um die Erfindung der Arriflex.
In München macht Erich Kästner jedoch einen wesentlichen Entwicklungsschritt, der endlich die Laufgenauigkeit der Spiegelblende bringt, die ihm vorschwebt und wie wir sie bis heute gewöhnt sind.


Der erste Prospekt zur Arriflex 35

Die Metallblende des Prototypen hatte sich mit viel Mühe einigermaßen genau auswuchten lassen und lieferte zufriedenstellende Bilder. Doch sie hatte ein großes Problem: Bei Temperaturschwankungen kam sie aus dem Gleichgewicht und warf ein unruhiges Bild auf die Mattscheibe. Weil Glas bei wechselnden Temperaturen stabil bleibt, fertigt man eine Umlaufblende aus einer Glasscheibe und erzielt auf Anhieb eine hervorragende Perfektion. Alle Vorurteile der Zeit, in der man an Stahl und Eisen glaubte, werden bei Seite gelassen. Und eine gepreßte Glaskörper-Spiegelblende wird auch heute noch in die Arriflex-Kamera eingebaut und hat sich über Jahre hinweg bestens bewährt.
Auf der ersten Jahrestagung der Deutschen Kinotechnischen Gesellschaft Ende 1937 spricht Ing. Paul Heinisch, Mitarbeiter der Askania Werke Berlin, zum Thema Filmkameras. Die Arriflex rechnet er zur Gruppe der ausgesprochenen Freihandkameras. Daneben gibt es die Bildberichterstatterkamera für erhöhte Anforderungen, wozu er die Askania-Schulterkamera zählt, die nicht nur doppelseitige Transportgreifer, sondern auch Sperrgreifer und Pendelfenster hat. Die dritte Gruppe bilden die stativgebundenen Berufsaufnahmekameras, zu denen die Askania Z gehört. Überhaupt reagiert die Fachwelt eher zurückhaltend und stuft die Arriflex-Kamera zwar als Neuerung mit »gefälligem Äußeren« ein, doch die große Anerkennung bleibt ihr zunächst verwehrt.
Die Münchner haben auch nichts Eiligeres zu tun, als eine Atelierkamera anzukündigen, ebenfalls mit Spiegelreflexeinrichtung. Sie ist eines der wenigen Entwicklungsprojekte bei Arri, das abgebrochen wird und sang- und klanglos in der Versenkung verschwindet.

Zum Teil 2 der Arriflex Story