Wir sind auch Archivmaterial

1. Dezember 2011

 

Klaus Wildenhahn

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Wir sind auch Archivmaterial
Dokumentarfilm D 2005   93 Minuten
von Hans Albrecht Lusznat und Anna Crotti
Regie: Hans Albrecht Lusznat, Kamera und Schnitt: Anna Crotti
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Eigentlich bin ich Kameramann, und nach mehr als 200 Filmen und 33 Jahren hinter der Kamera verspüre ich nicht den dringenden Wunsch ins Regiefach zu wechseln obwohl immer mehr Regisseure selber zur Kamera greifen und traditionelle Spezialisierungen sich im fröhlichen Allrounder aufheben. Angesichts des drohenden 25 jährigen Jubiläums der AGDOK im Jahr 2005 wurde die Frage gestellt: Wer macht den Jubelfilm?  -  HFF Studenten und die üblichen Praktikanten hatten schon abgewinkt  -  da griff ich zu. Die Geschichte der AG DOK konnte bei diesem Projekt ein roter Faden und ein Anlass sein, diejenigen, die gewöhnlicher Weise neben mir auf der anderen Seite der Kamera sitzen vor die Kamera zu bringen, auszufragen und zu erfahren: Warum sind die Dokumentaristen?


Die Gründung
Die erste Erfahrung ist gleich ein Paradoxon. Scheinbar hat niemand die eigene Geschichte so schlecht dokumentiert wie die Dokumentarfilmer:

Christel Fomm
Ich sehe einen großen Raum, ich sehe viele Leute, die unendlich viel reden. Es gab furchtbar viel Streit glaube ich, ..


 Christoph Boekel
..ich weiß jetzt nicht mehr genau wo, ich kann mich nur noch erinnern dass es ein relativ heller lichtdurchfluteter Raum im Paterirre war,


 Wolfgang Landgraeber
..es war ein größerer Raum, und es war eine Podiumsdiskussion, Wir alle saßen im Publikum und auf dem Podium hockten dann die, die die Initiative gegründet hatten, eine AG Dokumentarfilm zu gründen, aber ich weiß nicht mehr genau, wer darauf saß auf dem Podium
Christoph Hübner
Bei der Gründung, ja ich glaube, ich war dabei, ich war dabei. Ich habe noch versucht mich zu erinnern, bevor ihr kamt, was ich davon noch weiß. Ich weiß genau, es war ein Kinosaal, wir saßen da vorne alle. Es gab auch ein paar Treffen, wo wir überlegt haben, was für einen Verein, was der soll, ...

Von der Duisburger Gründungsveranstaltung ist kein Foto aufgetaucht. Es gibt erst recht keine Filmeinstellung und auch meine Suche nach Dokumenten war erfolglos. Hannes Karnick und Wolfgang Richter hatten ein Jahr zuvor gerade alle Akten entsorgt, bei Christoph Boekel fanden sich noch vereinzelte Papiere und in der Geschäftsstelle wurde am Anfang auch nicht hinreichend dokumentiert. Schließlich hatte ich zumindest eine Liste der Gründungsmitglieder.


Die Zeit der ersten Jahre
Bei meinem ersten Film an der Kamera war ich gerade 22 Jahre alt, beseelt davon einen Film machen zu dürfen, natürlich einen mit politischem Inhalt, über Stadtteilarbeit und Bürgerinitiativen. Das war drei Jahre vor der Gründung der AG DOK und die Motivation Filme zu machen war eine andere.

Wolfgang Ettlich
Na ja  wir haben halt dann über unsere Filme diskutiert über Filmtheorie, na über Filmtheorie nicht aber wir haben uns einmal im Monat getroffen oder zweimal...einmal im Monat glaub ich...


 Wolfgang Landgraeber
....mit der erklärten Bereitschaft übers Handwerk zu reden. Das heißt übers dokumentarische Filmschaffen zu reden. Und das wurde dann von verschiedenen Landesverbänden auch verschiedenstark eingelöst. Ich war dann auch aktiv, lange Zeit aktiv hier in der bayerischen Sektion, die dann auch relativ früh angefangen hat mit regelmäßigen Treffen, mit regelmäßigen wöchentlichen Treffen.


Hannes Karnick
Ich glaube das auch in den Regionen damals, wo man sich zusammengefunden hat, das eine Zeit lang sehr viel intensiver um die Produkte, um die Filme geredet wurde, dass Filme gezeigt wurden, zum Beispiel hat es hier in Frankfurt über Jahre hinweg eine Reihe im kommunalen Kino gehabt, und dann später im Filmmuseum, die hieß die AG Dokumentarfilm zeigt. Da haben wir, was heute unvorstellbar ist, Work in Progress gezeigt, also Filme die noch gar nicht fertig gemischt waren oder nur Rohschnitte vor Publikum, und haben da versucht und das ist auch gelungen, eine inhaltliche Auseinandersetzung über die Filme selbst herzustellen.


Thomas Frickel
Man hat damals Filme gemacht mit der Ambition, dass das Licht wieder angeht und die Leute springen elektrisiert auf im Kino und fragen, wo ist die nächste Demonstration. Und die Titel waren ja durchaus auch programmatisch: Rote Fahnen sieht man besser ..


Lebenswege und Werdegänge
Bei den vielen Interviews die ich als Kameramann aufgenommen habe, habe ich eine Menge unterschiedlicher Fragemethoden und Techniken kennen gelernt und eine Erfahrung gemacht: Immer wenn es um den Lebensweg geht, bin ich hell wach. Das ist wie wenn man auf einer Wanderung einen anderem Wanderer begegnet und fragt: Wo kommt er her, wo will er hin und was gab es Außergewöhnliches. Dann beginnt ein Abgleich der gemeinsamen Erfahrungen und Ansichten und in den Bereichen der Deckungsgleichheit, Überschneidungen und Differenzen schleicht sich bisweilen eine Erkenntnis für das eigene Leben ein.

Peter Krieg
Sonst hatte ich keinen Bezug zum Kino bis zum Studium, wo ich plötzlich angefangen habe abends ins Abaton  zu gehen. Das war für mich etwas vollkommen Neues. Da hab ich gesagt, das wäre eigentlich ein schönes Medium, das zu verbinden, journalistische Arbeit mit Film. Dazu kam, dass ich ein  Reisemensch bin, ich wollte auf jeden Fall die Welt sehen.  Da hab ich gejobt, hab mir eine Kamera gekauft, eine 16mm Beaulieu und bin mit dieser Kamera nach USA gefahren und dort gleich am ersten Tag witzigerweise in New York in ein Filmkollektiv der 68er Bewegung reingerutscht, das damals in Amerika sehr prominent und wichtig war: The Newsreel. Und die Newsreel  Leute haben mich mit offenen Armen in New York aufgenommen, nicht zuletzt auch deswegen, weil ich eine Kamera hatte, die ich zwar noch nicht richtig bedienen konnte - ich hab das Kamera Machen eben aus der Bedienungsanleitung lernen müssen. Ich kann mich erinnern, die erste Rolle, die hab ich aus Versehen zweimal eingelegt. Das waren 16 Millimeter doppelt perforierte Tageslichtspulen, und wenn man sie einmal durchgelaufen hat lassen, dann konnte man sie wieder einlegen, und das ist mir aus Versehen passiert. Aber das muss einem am Anfang einmal passieren, ich glaube, das reicht dann für den Rest des Lebens.


 Ich habe mich in Berlin beworben an der Filmakademie und hatte für die Zeit natürlich genau die richtige Biographie, und bin dann gleich auch aufgenommen worden und habe 70 das Studium aufgenommen bis 73 und dann habe ich sofort noch während des Studiums einen ersten Film gemacht, der Prädikat „Besonders wertvoll“ gekriegt hat, und das war damals mit Geld verbunden, ich glaub, das waren so 30 000 oder 25 000 Mark, und das war genug.

Hans Andreas Guttner
Ich wollte hier auf die Filmhochschule gehen, aber die haben mich nicht genommen, und dann hab ich gedacht, der nächste einfachste Weg ist der über die Zeitungswissenschaft und Theaterwissenschaften, und so war es dann auch. Wir haben praktisch dort eine Gruppe gebildet, wir haben mit Superacht begonnen und haben wirklich ernsthaft gearbeitet wie mit 35mm-Film, mit Schienenfahrten mit Licht, mit einer großen Besessenheit, und es waren alle sehr engagiert dabei, und wir haben da pro Jahr ein, zwei Kurzfilme produziert, wobei wir die verschiedensten Funktionen wahrnahmen. Ich flog aber sehr schnell bei der Kamera raus, weil ich mal den Filter vergaß. Also ich wurde immer als Produktion oder Regisseur genommen. Als Kameramann nahm mich keiner mehr, weil ich den Filter mal vergessen hab, also ist das gleich gescheitert. Jeder sollte alles machen können, und das hat dann nicht funktioniert. Aber wir haben uns gegenseitig geholfen, und so sind pro Jahr einige Filme entstanden.
Ich dann mal Glück eben, dass ich die erste Prämie bekam, und der war damals gleich in Oberhausen der erste internationale Preisträger, das war der Film „Alemania Alemania“, und der hat mir dann die Wege geebnet

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Beobachten oder Eingreifen
Schon bei den ersten Interviews kam Klaus Wildenhahn ins Gespräch, der als Vertreter des Cinema Veriteè Anfang der 80er Jahre der wichtigste Deutsche Dokumentarfilmer war und schon bei der Gründung der AG DOK hat seine Haltung den Widerspruch vieler Kollegen provoziert. Wildenhahn stand für den beobachtenden Dokumentarfilm während andere eingreifen und bewegen wollten, vielleicht sogar verändern und dazu auch inszenierten. Wo das Eingreifen anfängt ist zwar schwer zu definieren, denn schon die Anwesenheit der Kamera ist ein Angriff auf die Realität.

Dietrich Schubert:
Wer wichtig damals für den Dokumentarfilm und auch für die Gründung war, ist Klaus Wildenhahn mit dem wir uns damals teilweise heftig gestritten haben, weil er so eine Form von Dokumentarfilm vertrat, also den rein beobachtenden Dokumentarfilm. Es gab da Diskussionen, wenn man zum Beispiel eine Szene dreht, in der ein Bauer über den Hof geht und das Filmmaterial läuft in der Kamera aus, dann darf man Bauern nicht fragen, können sie noch mal über den Hof gehen, weil die Kassette gerade ausgelaufen ist!... Wenn ich mir heute manchmal die Dokumentarfilme ansehe, finde ich, dass diese Forderung, gegen die wir damals gestritten haben, dass man die eigentlich wieder als Forderung erheben müsste, also diese ganzen nachgestellten Szenen....

Klaus Wildenhahn war mein letzter Gesprächspartner und es war nicht ganz einfach, ihn vor die Kamera zu bekommen. Aber es war eines der interessantesten Gespräche durchdrungen von viel Reflexion, von Ruhe und Altersweisheit:

Klaus Wildenhahn
Meine Filme haben glaube ich nicht so sehr dieses Spielfilmelement, dass sie quasi auf einen Höhepunkt zusteuern und eine Spannung aufbauen, und dann kommt ein Höhepunkt und dann kommt der Nachhall und dann ist der Film aus. Ich glaube auch viel eher – und das war auch nur so halb formuliert – die Ideen, was mich wohl mehr interessiert, so eine gänzlich andere Dramaturgie ist, aber da bin ich auch nicht ans Ende gekommen in meinem Filmemacherleben, eine Dramaturgie, die gar nichts mit Höhepunkten zu tun hat, sondern die, ich weiß nicht mal, wie ich das benennen soll, ...die Pausen zulässt, die das Absinken von Lebenslust und Spannung auch zulässt, einfach so Sachen, die etwas anders auslaufen, das etwas anders Auslaufen, weil ich möglicher weise das im Leben bei mir für sehr wichtig gehalten habe, dass die Sachen anders kommen können, und anders laufen und furchtbar viel, was unser Dasein so ausmacht, damit zu tun hat, das es keine Höhepunkte sind.

Eines wurde nach den vielen Gesprächen ganz deutlich. Die Herangehensweise an das Thema und die Protagonisten entspricht der eigen persönlichen Struktur des Filmemachers und die Methoden sind so unterschiedliche wie der Persönlichkeiten. Wildenhahn ist der Beobachter, der sich unauffällig zurückzieht und dem es nicht in den Sinn kommt, die Realität zu Gunsten einer besseren Kameraposition zu ändern, während Andres Veil von der Psychologie kommt und ein Film mit ihm wahrscheinlich eine Art Selbsttherapie für den Protagonisten bedeutet.

Andres Veiel
Das heißt, ich inszeniere, ich gebe Dinge vor, weil ich der Überzeugung bin, dass wenn ich mich nur auf das verlasse, was Leute mir geben, dann sitze ich möglicherweise der Selbstinszenierung der Protagonisten einfach auf. Das ist uninteressant oftmals, weil die Leute wollen ein bestimmtes Bild von einem - Schauspieler ohnehin, aber das machen auch viele andere Leute - haben ein Interesse ein bestimmtes Bild von sich zu vermitteln. Das heißt derjenige, der jetzt sagt, ich arbeite puristisch, ich beobachte nur, verkennt, dass durch die Anwesenheit der Kamera immer auch ein Zweckdenken mit verbunden ist und immer auch eine Selbststilisierung und Selbstinszenierung, und da muss ich gegen arbeiten.


Struktur und Form
Bei einigen Filmen bin ich Mitautor gewesen, habe die Geschichte und Struktur mitentwickelt und Ideen gegeben. Jetzt war ich zum erstenmal Regisseur und am Anfang stand eine komplexe Struktur: Die Geschichte der AGDOK; Die Frage nach dem perfekten Dokumentarfilm; Der Versuch der Praktikantin die Interviewtreffen für die eigene Entwicklung zu nutzen; Dreh mit 2 Kameras; Fotos. Von alledem ist relativ schnell nur ganz wenig übrig geblieben. Sprechende Köpfe in einer fiktiven Diskussionsrunde, hart aneinander geschnitten – keine Zwischenschnitte, keine Beobachtungen, keine Filmausschnitte, keine Fotos so wie es Eberhard Fechner gemacht hat. Es gab einige Kollegen, die an der Praktizierbarkeit dieses Konzeptes gezweifelt haben; es ist anstrengend und verlangt dem Zuschauer ein hohes Maß an Konzentration ab, aber es funktioniert.
Von 28 Stunden Material sind 1,5 übrig geblieben und es gab noch viele Themen des Dokumentarfilmmachens, die nicht berücksichtigt geblieben sind.


Interaktiver Film
Formal hat sich im Dokumentarischen nicht sehr viel Neues entwickelt außer neuer Vermarktungsformen, was letztlich aber nur mehr einer anderen Verpackung entspricht. Christian Doermer hat für die Dokusoap einen treffenden Begriff gefunden, die Fortsetzung der Fußballliftübertragungen im sozialen Bereich. Peter Krieg hatte sich vor Jahren mit einer interaktiven Erzählweise befasst und im Umgang mit ihr ganz wichtige Erfahrungen gewonnen:

Peter Krieg
Das war deswegen eine Sackgasse, weil auf der einen Seite der Einzelne ja einen Input geben konnte, er konnte ein Signal geben, ich will jetzt mehr davon, also er will vielleicht ausführlicher das sehen, was jetzt grade gezeigt wird, aber hatte letztlich, dadurch, dass es eine Abstimmung war - immer die Mehrheit entschied dann, wie es im Film weiterging - baute sich der Frust auf. Weil jeder am Schluss das Gefühl hatte,  ich hab nicht alles gesehen, was ich sehen wollte, weil irgendwelche Idioten, die da fasch gedrückt haben, dafür gesorgt haben, dass ich das nicht sehen konnte. Und da jedem das ja irgendwann mal passiert war, hatte jeder am Schluss das Gefühl, um vielleicht das Beste betrogen worden zu sein. Und das Kino lebt ja eigentlich davon, vor allem auch der Spielfilm, dass es der einzige Ort in unserem Alltag ist, wo alles, was wichtig ist, da passiert, wo ich auch bin. Normalerweise passieren die wichtigen Dinge, die interessanten Dinge immer da, wo ich nicht bin. Und das ist ein Frust, weil man sich dann auch immer wieder ausgeschlossen fühlt. Und im Film passiert alles, was wichtig für die Geschichte ist und ich bin dabei. Diesen Alltagsfrust kann man im Kino aufheben und das ist sicher auch ein wichtiger Teil der Attraktion des Kinos. Wenn ich jetzt den Alltagsfrust etwas verpasst zu haben, auch noch ins Kino importiere, dann werden die Leute richtig böse. Und da hab ich gemerkt, das ist eine Sackgasse.


Ratschlag an die Jungen
Die jüngeren Leute kommen im Film kaum vor; dass ist keine Missachtung. Sie können zu wenig zur Geschichte der letzten 25 Jahre aus eigener Erfahrung beisteuern. Aber allen Filmemachern habe ich immer die Frage gestellt, was würdet ihr den Jungen Leuten raten, die Dokumentarfilme machen wollen:

Wolfgang Ettlich
Das Entscheidende,  das muss ich immer wieder sagen, das sollen sich die jungen Leute wirklich merken, ist:  Wenn ich im Altersheim bin, dann bin ich im Altersheim. Wenn ich in der Küche bin und mit der alten 92jährigen oder im Fahrstuhl, dann bin ich dabei! Dann ist das wie meine Oma, die interessiert mich, - wie läuft die? – warum ... woran denkt die noch? Ja, oder wenn ich in Amerika bin und der Schornsteinfeger sucht seine Mutter, dann... dann kommen mir die Tränen, wenn er seine Mutter findet.. Und wenn ich diese Emotionen umsetzen kann, das geht natürlich nur mit dem Kameramann.... DAS macht den Filmemacher aus, sonst hast du keine Chance. Wenn du hingehst im Altersheim  und denkst schon an heute Abend, an deine Frau, wenn du mit der ins Bett hopsen kannst oder was, .. dann kannst du diesen Job aufgeben. Dann würde ich niemand raten Dokfilm zu machen.

Alle Geschichten sind schon mal erzählt, auch im Dokumentarischen und der Rohstoff, aus dem die Filme gemacht werden wird immer knapper. Der Familien und Bekanntenkreis ist filmisch mit Väter-, Mütter- und Familienfilmen abgeschürft und dokumentarisch unverwertete Leben werden so selten wie Rohdiamanten. Was bleibt für die Nachfolgenden? Wir müssen schon heute das Archivmaterial für morgen produzieren:

Hannes Karnick
Wobei schon interessant ist, wenn man so im Laufe der Jahre sieht, dass die eigenen Filme, die man ja irgendwie, nicht spontan, aber doch irgendwie aktuell, aus dem, was man erlebt oder erfahren hat, gemacht hat, wie die dann im Laufe der Jahre selbst zum Archivmaterial werden. Und andere gucken sie so an und man selbst guckt sie dann auch an, so als Archivmaterial, was gar nicht uninteressant ist.
Wolfgang Richter
Wir sind auch Archivmaterial!

Der perfekte Dokumentarfilm
Als Steadicamoperator wirkt man oft an Hochglanzproduktionen mit, die den Zuschauer durch den technischen Aufwand bestechen und gefallen sollen. Aus der Perspektive des nur am Rande beteiligten habe ich dann irgendwann die Erkenntnis gewonnen: Der technische Aufwand zwingt keine Seele in einen Film. Gibt es ihn nun den perfekten Dokumentarfilm? Andres Veiel als erfolgreicher Kinodokumenarfilmer aus dem Kreis der AG DOK fand dazu eine schöne Antwort:

Andres Veiel
Ich hoffe nicht, dass es ihn gibt, weil ich glaube, das Leben ist eben sperrig und es ist nicht perfekt. Und ein Dokumentarfilm der glatt und perfekt ist, der verstößt genau gegen diese Erkenntnis. Das heißt, er muss sich dem Unberechenbaren, dem Eckigen und Kantigen hin öffnen. Er muss auch was transportieren. Er muss an manchen Momenten muss rau sein, er muss auch mal schmutzig sein. Das heißt, je perfekter etwas wirkt, desto unglaubwürdiger wird es. Ich merke dann, dass da Kosmetik drauf geschmiert wurde, ich merke, dass da etwas zurechtgebogen wurde und dass der schönste Soundtrack letztendlich das mein Unglauben, ja dem was entgegen setzen will, aber so etwas macht mich dann nur noch misstrauischer. Dass heißt, die Perfektion kann nur einhergehen mit einer Offenheit der Konstruktion. Wenn die Konstruktion geschlossen ist und die Perfektion sich noch drüber lagert, dann habe ich das Gefühl, hier stimmt etwas nicht. Und ich glaube, dass die Zuschauer das merken. Ich glaube, dass die Zuschauer da sehr unterschätzt werden nach dem Motto: Die nehmen das alles ab. Aber je perfekter, je besser. Es gibt ein ganz starkes Gespür für etwas, was  – ich sag mal – aus Pappmaché poliert wurde, denn Pappmaché bleibt einfach Pappmaché. Da fehlt die Substanz. Da kann man einen noch so schön Soundtrack drauf legen und noch so schön schneiden und mit Steadicam und Hubschrauberfahrten und großem ästhetischen Aufwand und schönem Licht dagegen arbeiten. Ich glaube, es war Bresson, der mal gesagt hat: „Eine Ansammlung von nur schönen Bildern ist unerträglich. Ich finde, da hat er was sehr Wahres gesagt.

Seitenwechsel
Den Stuhl neben der Kamera mit dem Regisseur zu tauschen hat mir auch persönlich eine neuen Blick auf die Arbeit des Kameramanns gebracht. Wenn man sich in die Rolle des anderen begibt, dann sieht man die eigene Rolle mit neuen Augen. Technische Unterbrechungen reißen mich aus der inhaltlichen Diskussion und ich erlebe mich genauso ungehalten über störende Einflüsse. Oft habe ich Regisseuren schon gesagt: Es kommt nicht drauf an, dass Du bequem sitzt, sondern dass wir ein ansprechendes Bild haben und die Szene gut rüber kommt. Jetzt stört es mich, dass ich mich kaum rühren darf, weil dann der Ellbogen ins Bild kommt oder das Blatt mit den Fragen stört, das ich in den Händen halte. Und die Belehrungen, die man den Interviewpartnern vorher gibt: Sagen sie nie, wie ich schon gesagt habe; nehmen sie die Frage in die Antwort mit auf; ist auch bei den Regiekollegen angebracht.


 Selten habe ich zuvor soviel und so intensiv über das Dokumentarische nachgedacht und geredet und wenn der Film „Wir sind auch Archivmaterial“ dazu beiträgt, die Diskussion voranzutreiben, dann hat es sich gelohnt ihn zu machen.

© Hans Albrecht Lusznat 2005/2011