Preisverleihung an Thomas Mauch in Marburg

30. März 2019

Mit Thomas Mauch hat einer der wichtigsten Kameramänner des Neuen Deutschen Films den diesjährigen 19. Marburger Kamerapreis erhalten. Er hat ab 1967 mit vielen Regisseuren des Neuen Deutschen Films gearbeitet,darunter Werner Herzog, Edgar Reitz, Ula Stöckl, Alexander Kluge, Helma Sanders-Brahms und Werner Schroeter. 12 lange Filme hatten die Marburger um Professor Dr. Malte Hagener für das Programm ausgesucht. In drei Werkstattgesprächen beantwortete Thomas Mauch dann die Fragen der Filmkritikerin Hannah Pilarczyk,des Filmwissenschaftlers Florian Krautkrämer und des Kameramanns Rüdiger Laske(BVK), diesmal zusammen mit dem Regisseur Christian Wagner, bei dessen Erstling "Wallers letzte Gang" Thomas Mauch die Kamera führte. Erstmals fand die Veranstaltung im Filmkunsttheater Capitol statt, nachdem der bisherige Veranstaltungsort, die Kinos in der Oberstadt im letzten Jahr geschlossen hatten.

Die Kameraarbeit von Thomas Mauch ist von einer gewissen Radikalität geprägt, mit der er mit seinen Bildern die Erzählung des Filmes unterstützt. Kameratechnik und Licht sind da nur Mittel zum Zweck. Mauch sieht sich als Möglich-Macher und weil er mit den oft widrigen Bedingungen des Neuen Deutschen Films als risikobereiter Grenzgänger problemlos zu Recht kam, war er auch so erfolgreich. Für die Laudatio hat er nicht einen der prominenten Regisseure vorgeschlagen sondern seine langjährige Assistentin Anna Crotti und ging auch dort ins volle Risiko, das mit einer außergewöhnlichen Rede belohnt wurde. Wir geben hier einen Auszug aus der Laudatio wieder, der einen Bezug der Kameraarbeit von Thomas Mauch zu den Bildern des Malers Paolo Uccello 1438 beschreibt:



Das linke Bild Schlacht von San Romano

Also die Schlacht von San Romano. Zuerst ein Bild, das zeigt, wie die Tafeln ursprünglich im Raum angeordnet waren. Die ursprüngliche Perspektive der Zuschauer also. Dies ist eine Rekonstruktion, aber eine, die ich sehr überzeugend finde. Sie waren in einem großen Raum mit Gewölben. Die beiden hier Frontal, das hier rechtwinkelig. Das linke Bild hängt heute in London. Das zentrale in Florenz, das rechte in Paris.

Sie sehen heute wie Cinemascope Bilder aus, waren damals aber vertikal bis oben gezogen, in Lunetten, dem Gewölbe folgend, was das Bild fast RUND machte. Vielleicht gingen sie sogar über die Köpfen der Zuschauer. Der Horizont war mit Sicherheit zu sehen, hoch in der Lunette.
Die Bilder sind sehr groß 3,5 Meter lang und heute ca. 2 Meter hoch. Also es waren 10 laufende Meter Bild, rechtwinklig angeordnet,auf eine Höhe von vielleicht 3 Metern. Das war Immersives Erlebnis 1438.



Das mittlere Bild Schlacht von San Romano

Das linke Bild zeigt den Angriff der florentinischen Truppen (Niccolo' da Tolentino), das zentrale Bild zeigt den Schlüssel-Moment der Schlacht: Bernardino della Ciarda, Anführer der Senesen, wird vom Pferd geworfen. Das rechte zeigt das Ereignis, das die Schlacht entschied: Micheletto da Cotignola kam als Verstärkung der Florentiner zu Hilfe, und überraschte die Senesen von hinten.



Das rechte Bild Schlacht von San Romano


Also, drei verschieden Momente in der Zeit. Schnitttechnisch eine Sequenz. Es gibt historische Zeugnisse: dies war tatsächlich das Geschehen - von Florentinische Seite gesehen und interpretiert natürlich - die Seite der Gewinner. Der Auftraggeber, Leonardo Bartolino Salimbeni, hatte an der Schlacht teilgenommen, für seinen Palast wurden die Bilder gemalt, nur 6 Jahre nach der Schlacht. Bei Paolo Uccello wird öfter von künstlich, manchmal von märchenhaft geredet. Naja, wenn märchenhaft, dann nur weil er - durch das Malen, das Dokumentierte, Reale in das Paradigmatische überträgt, ins Modellhafte/Mustergültige. Das ist die erste Verbindung, die ich zu Thomas Werk sehe.
Wie macht Uccello das? Worum geht es ihm? Die Schlacht dauerte 8 Stunden, wie ist die Sequenz gebaut? Auf den ersten Anblick sind es drei unterschiedliche Brennweiten: das Bild zentral: sieht wie ein 21-24mm? Das Bild links wie ein 28-30mm würde ich sagen, das Bild rechts wie ein 40mm. Oder?
Zum ersten Bild: Die Perspektive ist von der gebrochen Lanzen gegeben, ein Toter dringt vorne in unserem Raum ein, perspektivisch extrem verkürzt, wie später der Christus von Mantegna. Die Ecke mit Blumen, die Landschaft. Drei Ebenen.
Bild rechts. Ohne Landschaft. Hier sieht man schon sehr gut, was Paolo Uccello zum Erzählen verwendet: Bewegung. Es ist die Darstellung von Bewegung. Die beiden rechten Pferde ziehen uns in das Bild rein und die Bewegung wird in Stufen von rechts nach links dargestellt.
Die hier stehen multipliziert wie eine Ziehharmonika, oder wie eine sukzessive seitliche Bewegung, das eine Pferd hier noch mit drei Füssen am Boden die nächsten beiden in voller Bewegung, der hier schon im Galopp. Es ist eine Bewegung, die sich von rechts nach links beschleunigt.
Micheletto steht im Profil aber ist um 3/4 verdreht, er kommt aus dem Bild heraus auch wegen seines tollen dreidimensionalen Hut, als würde er durch den Raum springen wollen,um denen im linken Bild zu helfen. Das Pferd hier rechts ist zu lang, weil das Bild ja rechtwinklig zu den anderen stand und in der Perspektive des Betrachters verkürzt aussah. Unten dem Bauch des Pferdes viele Beine wie in Zeitraffer. Meine liebste Darstellung ist hier oben, 5 Fotogramme pro Sekunde, die Bewegung einer runter schwenkenden und zielenden Lanze. Die Rüstungen waren mit Blatt-Silber überzogen, das sehr reflektiert hat - natürlich. Ich bin sicher, dass Uccello auch mit der Retina Permanenz von helleren Blitz-Flächen gespielt hat.
Also: Konstruktion der Bewegung aus Einzelbildern, Retina Permanenz, Zeitraffer, alle Kinotricks sind da. Die Kamerafahrt muss natürlich der Blick des Zuschauers machen, aber die Schiene dafür liegen schon im Bild sozusagen. Das Bild funktioniert, weil Uccello jeden möglichen Faktor des Sehens ausnutzt.



Anna Crotti bei der Laudatio

So und dieses Bild da. Es sah so aus wie ein 21mm … oder 24mm Brennweite, aber die Pferde rechts und links sind kleiner als das Pferd im Zentrum. Es sind also drei unterschiedlichen Brennweite, nicht eine. Es gibt drei perspektivische Fugen in der Horizontalen. Eine hier und eine hier.

Paolo Uccello war der erste, wie Vasari sagt, der die Paesi - also die Landschaft, IN PERSPEKTIVE im Hintergrund malte. Masaccio hatte seine Geschichten meistens in geschlossenen Architekturen stattfinden lassen, die perspektivische Konstruktion war dort einfacher zu lösen.Vasari sagt mehrmals, Paolo Uccello wäre ständig hinter dem ganz Schwierigen her gewesen.
Die Hintergrundlandschaft wurde später zur Marke der Hochrenaissance. Aber die Landschaften von Paolo sind keine „schöne Postkarten hinter dem Portrait der Edeldame“. Die Landschaft ist öfter in Paolo eine Art controcanto. Ein Gegen- oder Neben- Kommentar.
Der große „Maler“ der Landschaft im neueren deutschen Film ist für mich Thomas Mauch. Thomas hasst Postkarten. Die Landschaft ist bei ihm Gegenentwurf, Kommentar oder wesentlicher Teil der Erzählung. Wie bei Uccello.

Also nochmal hier unten, das Bild. Die Einzelheiten sind wie gesagt alle dokumentarisch, gesichert durch die Chroniken. Sogar die Kritiken, die man an dem Pferd hier (ZEIGEN) immer machte, weil Pferde nicht so hoch treten können, waren falsch. Man hat rausgefunden, dass in den Schlachten dieses Zeitalters – vor den Schusswaffen - Pferde Verletzungen im Hüftbereich erlitten die genau diese Haltung zu Folge hatten, und dass dabei die Lungen genau so (ZEIGEN) sich in dem Bauchraum aufblähten wie hier gemalt ist. GLEICHZEITIG wollte Paolo Kreise im Bild haben, die als perfekte Formen galten. Also alles genau dokumentarisch und realistisch, aber das Bild ist ein Spielfilm, wo die Formsprache die HauptRolle hat. Ich glaube so was Ähnliches habt ihr schon mehrmals gesehen, in diesen Tagen in den Filmen von Thomas Mauch.



Der Preisträger und die Mittwirkenden, links im Bild Jost Vacano, Rolf Coulanges und Michael Neubauer vom BVK


Eine Zeit Sequenz entwickelt sich innerhalb des Bildes, drei Momente in der Zeit, dargestellt durch Bewegung. Aristoteles sagte, die Zeit existiert nicht in sich, als Ding, die Zeit ist nur, Zitat, „das Mass jeder Bewegung“. Jeder hatte damals Aristoteles gelesen. Noch ein Zitat „Film ist Zeit, die vergeht” das ist von Thomas, aus einem Portraitfilm über ihn.
Man kann die Zitate kombinieren, dann kommt man ziemlich nah an das, was ein Filmbild ist. Die Zeit existiert nicht, kann nur in der Bewegung - vorhanden sein, und - dargestellt werden.
Thomas kommt allerdings aus dem Schwäbischen Protestanten Land. Die Reformation war Augustinus je! Aristoteles beh. Bei den Frühhumanisten war Augustinus auch sehr beliebt. Und Augustinus sprach von der inneren Zeit, von Erlebniszeit, die ist der Träger der Emotionen, der Stimmungen, die im Film zum Zuschauer kommen sollen.
Auch der Raum existiert in diesen Bild nicht als leerer Container: er wird durch die Formen in Bewegung geformt. Es entsteht eine Dauer, ein Erlebnis: vom Chaos einer Schlacht. Es ist mir schleierhaft wie die Kritiker dieser Bilder 400 Jahre lang von „eingefrorener Bewegung“ reden konnten.

Hier bewegt sich alles mit. Wie in einem riesigen Ring. Durch die unterschiedlichen Perspektiven, drei Brennweiten, wird suggeriert: die kommen, treffen, kreisen vor unsere Augen, gehen. Die Pferde am Boden als quasi Subjektive der sich bewegenden Tiere. Bernardino fällt nach hinten zu Boden, am Boden ist ein schon Gefallener: also zwei Stufen einer Bewegung. Das fehlende Zeitstück wird durch die Kreisbewegung in der Imagination des Zuschauers erzeugt. Ich habe jetzt die Filme von Thomas wieder gesehen und festgestellt, dass ich ab und zu falsche visuelle Erinnerungen hatte. Ich erinnerte, was es im Film nicht gibt, aber von den Bildern suggeriert wird. Viele Bilder von Thomas sind e-vokativ. Sie rufen, sie provozieren ihre Fortsetzung im Kopf. Über diese Gemälde könnte man noch einen Tag lang reden.



Kino in Marburg


Mir scheint: wenn man über Kamera Schaffen redet, sollte man beim Sehen anfangen. Es ist ein Metier, bei dem am Anfang das Sehen des Kameramenschen, am anderen Ende das Sehen der Zuschauer im Kino steht. Das Sehen der Kamera muss sozusagen im Kino an das Sehen des Zuschauer andocken, so wie zwei Raumschiffe andocken, und ihn in die Geschichte mitnehmen. In der Frührenaissance gab es noch nicht unsere Einteilungen der Fächer. Die Malerei war ein Teil der Wissenschaft, weil sie sich mit dem Sehen auseinandersetzte, mit den Gesetzen und Eigenschaften des Sehens. Die Optik war ein Teil der Natur Philosophie, die Maler waren auch Naturforscher.
Der Zweck von Uccello und seinen Zeitgenossen war: Realismus. Die Methode der Perspektive war ein Mittel, um das reale Sehen zu reproduzieren und damit den Zuschauer in die Geschichte hineinzuführen. Damit schaffte man einen einheitlichen Raum in dem zum Beispiel Zeit in Form von Momenten einer Erzählung dargestellt werden konnte.
Brunelleschi hatte seine geometrische Methode sehr medienwirksam vorgestellt. Und nachdem die Kuppel der Santa Maria del Fiore DOCH nicht eingestürzt war, wie alle erfahrenen Zimmerleute vorhergesagt hatten, galt er als absolutes Genie, was er auch war. Masaccio malte nach der geometrischen Konstruktion von Brunelleschi die Cappella Brancacci und andere Meisterwerke, und starb mit 28. Ein Mythos, wie James Dean. Drei Jahre vor den Gemälden hier, kodifizierte Leon Battista Alberti, Architekt, Schreiber, also ein Intellektueller, diese geometrische-mathematische Konstruktion, wie sie Masaccio angewendet hatte, berechnete den Ausgleich der Randaberrationen, und nannte es "Legittima", was schon unterstellt, es gebe eine nicht Legitime. Er propagierte europaweit, dass dies die einzige wahre Methode war, um jeden und alle Bilder zu malen, die rationale Methode, weil Sehen rational ist, berechenbar nach geometrischen Regel.
Paolo Uccello sagte: Ach nee Kinder, nicht so, vor allem nicht so voreilig. Sehen passiert nicht durch ein festes monokulares Loch, wir haben zwei Augen, zwei, und wir bewegen uns, und alles bewegt sich, und die Linien sind parallel also treffen sich in der Realität doch nicht in der Unendlichkeit und es gibt optische Täuschungen und wenn man in der Schlacht ist, sieht man mit anderem Focus. Sehen ist multiperspektivisch, multifaktoriell, manchmal illusorisch, öfter fragmentiert, zeitgebunden. Also DAS ALLES müssen wir erforschen und Malen.
Paolo Uccello war vor allem allergisch auf die Idee eine Methode auf alles anzuwenden ... einen Stil für alle Filme hätte ich schon beinahe gesagt. Er war wie Thomas der Meinung, für jeden Stoff muss man anders vorgehen, andere visuellen Lösungen einsetzten, passend zu der jeweiligen Erzählung. Er malte zum Beispiel eine für unsere Sensibilität von heute ekelhafte Geschichten über böse Juden. Das kam ihn vielleicht nicht ekelhaft vor, aber doch sehr mittelalterlich, und so malte er sie, im Stil der Gotik. Da bewegt sich zum Beispiel nichts. Es sind sehr wenige Bilder vom ihm übrig, und bei den meisten ist man unsicher, ob sie seine sind, gerade wegen dieser Diversität des Stils.



Alberti und Brunelleschi haben gewonnen.Ihre Theorie versprach AUCH die beste technische Anwendbarkeit: nicht nur in der Architektur, auch in der Herstellung von optischen Geräten: unsere Objektive sind noch immer nach der Costruzione von Alberti berechnet, zentrale fixe MonoFocus, Korrektur der Aberrationen am Rande. Die Software für visuelle Effekte genauso, nur noch näher dran. Aber wer weiß, nun gibt es diese Fliegenaugen Multilinsen Kameras, vielleicht kann man mit der Fliege-Perspektiven andere Bilder erzeugen. Thomas würde sich wie immer auf neue Möglichkeiten freuen.
Multiperspektive können wir schon heute erzeugen, trotz der Alberti Linse, erstens durch die Kamerabewegung, und zweitens durch die Montage. Durch das Denken in Sequenzen. In beidem, Kamerabewegung und Denken in Sequenzen, ist Thomas ein Meister.
Paolo Uccello repräsentierte eine RADIKALE Alternative in der Methode, wie man Realismus im Bild erzeugt, Realität bildet und darstellt. Diese Alternative war historisch unterlegen, hat aber, durch die Kraft des eigenen Könnens von Uccello, ein enorme Einfluss auf viele der Maler, die nachkamen. Piero della Francesca, Mantegna, die Manieristen, die Liste ist lang.
Über Thomas Einfluss, hat der Professor vorher geredet … Aber das Wort RADIKAL möchte ich Euch heute ans Herz legen, bezogen auf das Schaffen von Thomas.
(Text: Anna Crotti, Fotos: HA. Lusznat, Gemälde: Wikipedia Public Domain)